Holzhäuser Heckethaler - Texte der Preisträger
Die Texte der Preisträger der Literaturpreise seit 2022
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2023 - 21. Holzhäuser Heckethaler
Wettbewerb 1: Alle Altersgruppen ab 14 Jahren im deutschsprachigem Raum
Thema: Dumm gelaufen
1. Preis & Publikumspreis: Petra Spielberg (56 Jahre), Wiesbaden
Ironie des Schicksals
Rudolf Geissler war ein bemerkenswerter Mann. Besser gesagt: Er war bemerkenswert friedfertig. Nie verlor er die Beherrschung. Stets nahm er die Dinge wie sie kamen, auch wenn er schlecht geschlafen hatte oder seine letzte Schicht mal wieder ungemein aufreibend gewesen war. Doch er fand, dass es zu nichts führte, sich über Dinge aufzuregen, die er sowieso nicht ändern konnte.
Ja, friedfertig. Das traf es aus seiner Sicht. Die meisten seiner Kollegen waren zu seinem Leidwesen weniger duldsam. Sie werteten jede Überstunde und jeden bürokratischen Akt als persönlichen Affront und beklagten sich in einem fort: über ihren Arbeitgeber, über die Patienten, über ihre Mitarbeiter und natürlich über die Politik. Über diese Großkopferten in Berlin, die ihnen den ganzen Mist eingebrockt hatten und fortlaufend neuen Blödsinn ersannen, um ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, während sie sich abrackerten wie in einem Hamsterrad.
Überhaupt, fand Geissler, schienen viele seiner Mitmenschen das Leben an sich als unzumutbare Bürde zu empfinden. Klar kannte auch er Momente des Grolls oder fühlte sich bisweilen ungerecht behandelt. Aber er vermied es, lauthals in das allgemeine Gejammer und Gezeter einzufallen und wehrte sich nach Kräften dagegen, sich von der schlechten Laune anstecken zu lassen, die ihn allenthalben umgab wie dichter Nebel. Stattdessen hatte er sich angewöhnt, etwaige Ärgernisse an den Rand seines Bewusstseins zu drängen, als wären sie Sperrmüll, der zur Abholung bereitstand.
Auch gestern hatte er es so gehandhabt, obwohl es ihm durchaus zugestanden hätte, aus der Haut zu fahren.
Es ging um seinen jüngsten Steuerbescheid. Auf seine freundlich vorgetragene Frage, wie es sein könne, dass seine Nachzahlung dieses Mal so ungewohnt hoch ausfiel, hatte ihm der Mitarbeiter des Finanzamtes, mit dem er deswegen telefonierte, frech erwidert: »Stellen Sie sich nicht so an. Sie verdienen als Arzt doch genug und müssen wegen der paar Kröten in Zukunft ganz sicher nicht am Hungertuch nagen.«
Geissler hatte einen Moment lang entrüstet nach Luft geschnappt, die Unverschämtheit dann jedoch kurzerhand weggeatmet und das unerquickliche Gespräch zähneknirschend, aber höflich beendet. Seine Taktik, sich nicht unnötig über die Nackenschläge, die einem das Leben verpasste, aufzuregen, hatte wieder einmal wunderbar funktioniert.
Doch Geissler sollte die Friedfertigkeit, derer er sich rühmte, schon sehr bald über Bord werfen wie lästiges Treibgut. Das Telefonat mit dem Finanzbeamten mit dem ungewöhnlichen Namen Handloser sollte dabei eine entscheidende Rolle spielen. Doch davon ahnte Geissler zu jenem Zeitpunkt noch nichts. Auch das unangenehme Ziehen in der Magengegend, das ihn seit dem Gespräch quälte, deutete er nicht als schlechtes Omen.
Und so betrat der Arzt am nächsten Morgen, getragen von einer Welle milder Frühlingsluft und im festen Glauben, dies werde ein Arbeitstag wie jeder andere, gut gelaunt das Krankenhaus, in dem er seit siebzehn Jahren arbeitete. Während er ein fröhliches »Einen guten Morgen allerseits« in die Runde trällerte, eilte er beschwingten Schrittes den Gang hinunter. Er tauschte sein Hemd und seine Jeans gegen seine stahlblaue Berufsbekleidung und ging in die hell erleuchtete Notaufnahme.
Nur wenige Atemzüge später ging es los. Ein Schlaganfall. Männlich, Mitte Siebzig, adipös, langjähriger Raucher. Der Klassiker. Geissler verkniff es sich, etwas zur Vorgeschichte des Kranken zu sagen und machte sich zügig an die Arbeit. Er stellte fest, dass der Mann weder sprechen, noch seine linke Seite bewegen konnte, ordnete einige neurologische Untersuchungen an, leitete danach die notwendige Therapie zur Auflösung des Blutgerinnsels ein, das den Schlaganfall ausgelöst hatte, und übergab den Fall schließlich zur Weiterbehandlung an die zuständige Abteilung im Haus.
Kaum hatte der Mann die Notaufnahme verlassen, hatte Geissler dessen Gesicht auch schon wieder vergessen. Auch dessen Name interessierte ihn nicht weiter. Für Geissler waren alle Patienten lediglich Fälle. Er hatte sein Gehirn darauf trainiert, jeden Neuzugang nur nach seiner Diagnose einzuordnen und abzuarbeiten. Das genügte und verschaffte ihm zudem die notwendige Distanz. In den Anfängen seiner Karriere hatte er noch den Fehler begangen, dem ein oder anderen Schicksal, das ihm begegnete, einen gewissen Raum in seinen Gedanken zu geben. Aber das hatte ihm nur Alpträume beschert. Seither machte er sich keine Mühe mehr zu hinterfragen, was aus denjenigen geworden war, die die Notaufnahme durchlaufen hatten: ob sie schnell oder langsam genesen oder möglicherweise verstorben waren.
Als nächstes brachte ein Pfleger ein siebenjähriges Mädchen herein. Sie war auf dem Schulweg mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich den rechten Unterarm gebrochen. Geissler ließ ein Röntgenbild anfertigen und besah sich die Aufnahme. Der Bruch war glatt und musste nicht operiert werden. Der Arzt lobte das Mädchen dafür, dass es so tapfer war und schickte den Pfleger mit dem Kind in den Gipsraum. »Gute Besserung«, gab er der Kleinen mit auf den Weg, während er sich bereits dem nächsten Fall zuwandte: ein Herzinfarkt.
Es folgten in kurzen Abständen: ein Verkehrsunfall mit Polytrauma, eine gerissene Bauchschlagader, eine epileptische Krise, ein Blinddarmdurchbruch, ein Fall mit unklaren Lähmungserscheinungen sowie eine schwere allergische Reaktion. Alles war wie immer. Hektisch und nervenaufreibend. Aber Geissler hatte die Situation im Griff und wie üblich auch sich selbst, obwohl der Dienst ihm wieder einiges abverlangte und sein Magen weiterhin unterschwellig rebellierte.
Jeder abgearbeitete Fall gab ihm allerdings auch ein gutes Gefühl. Er genoss es, die Weichen zur Rettung eines Lebens stellen zu können wie ein Bahnwärter. Ja, er gab es ungern zu. Aber mitunter fühlte er sich wie der sprichwörtliche Gott in Weiß.
Dann fand ein Gezeitenwechsel statt. Die Flut an Patienten ließ nach. Ebbe trat in der Notaufnahme ein und nahm die Geschäftigkeit der ersten Stunden mit sich in den großen Ozean der Vergangenheit.
Geissler hatte endlich Zeit für eine Pause. Er wusch sich zum wahrscheinlich dreißigsten Mal an diesem Morgen die Hände, setzte sich an seinen Schreibtisch, schob die Papiere, die zuvorderst lagen nach hinten und ließ sich von einer Schwester einen Kaffee bringen. Eine junge Assistenzärztin gesellte sich zu ihm, indem sie sich krachend auf der Kante seines Schreibtisches niederließ.
»Oh Mann, manche Patienten können einem den allerletzten Nerv rauben«, stieß sie gereizt hervor, während im Hintergrund das Monitoringsystem zur Überwachung der Vitalfunktionen eines Schockpatienten leise piepste.
»Na, na«, tadelte Geissler sie milde.
Doch die Ärztin schimpfte unverdrossen weiter. »Nein wirklich. Einige Leute haben es echt nicht verdient, dass wir uns für sie abmühen. Manchmal denke ich, ich hätte besser ...«
Geissler stellte die Ohren auf Durchzug, bemüht, die Litanei an sich abperlen zu lassen, während sein Magen ihm saure Signale in die Speiseröhre sandte.
Dann geschah es.
Die Ärztin gestikulierte wild mit den Armen und stieß dabei Geisslers noch randvolle Kaffeetasse um. Der kochend heiße Inhalt ergoss sich über seine Hose und verbrühte ihm die Oberschenkel. Geissler schoss in die Höhe und stöhnte schmerzerfüllt auf. Im selben Moment klingelte sein Mobiltelefon.
An der Stelle hätte Geissler durchaus aufgehen können, dass ungewöhnlich viele atmosphärische Störungen in der Luft lagen, die ihn heute seine Friedfertigkeit kosten konnten. Tat es aber nicht.
Er unterdrückte seinen spontanen Unmut über die Ungeschicklichkeit seiner jungen Kollegin, tupfte seine Hose notdürftig trocken und eilte in den Schockraum.
»Was haben wir hier?«, fragte er den Notarzt, als er an den Tisch herantrat, auf dem der Neueingang lag.
»Der Mann wollte in seinem Garten einen Baum fällen, ist dabei mit der Motorsäge abgerutscht und hat sich den linken Unterschenkel halb weggesäbelt. Er trug keine Schnittschutzhose. Ich fürchte, die Tibia, der Tibialis Anterior und mehrere Sehnen sind hin. Wir haben den Patienten stabilisiert. Sein Kreislauf drohte aufgrund des hohen Blutverlustes und des Schocks zu versagen.«
Geissler wandte sich an den Mann. »Hallo. Können Sie mich hören?«, fragte er ihn und sah ihm dabei forschend ins Gesicht.
Der Patient nickte schwach. Er war leichenblass und seine Haut war mit einem kalten Schweißfilm überzogen. »Werde ich meinen Unterschenkel verlieren?« würgte er ängstlich hervor, während Geissler seine Wunde eingehend studierte.
Geissler antwortete nicht. »Wie heißen Sie?«, erkundigte er sich stattdessen, nicht, weil ihn die Identität ausgerechnet dieses einen Patienten interessierte, sondern um den Mann am Reden zu halten, damit er nicht ohnmächtig wurde.
»Handloser«, flüsterte der Mann. »Klaus Handloser.«
In Geisslers Gehirn macht es klick. Der Finanzbeamte.
Geissler trat einen Schritt vom Tisch zurück und wurde sich im selben Moment wieder der schmerzhaften Verbrühungen an seinen Oberschenkeln bewusst. Gleichzeitig blitzten in seinem Gehirn die unverfrorenen Worte auf, die Handloser ihm gestern am Telefon um die Ohren gehauen hatte und sein guter Vorsatz, stets ein friedfertiger Mensch zu sein, zerplatzte urplötzlich wie eine Seifenblase. Eine ungewohnte Wut ergriff von ihm Besitz, vereinte sich mit dem Groll, den er bei anderen Gelegenheiten heruntergeschluckt, aber offensichtlich nie richtig verdaut hatte, und er nahm sich vor: Er, Rudolf Geissler, würde zurückschlagen. Dieses eine Mal würde er zurückschlagen und zwar mit voller Wucht. Er würde es dem Mann, der da hilflos vor ihm lag, heimzahlen. Jedes verdammte einzelne Wort würde er ihm heimzahlen, diesem Arschloch von einem Finanzbeamten.
»So, so, Handloser«, sagte er kalt lächelnd. »Mein Name ist Geissler, Dr. Rudolf Geissler. Sie erinnern sich?«
In Handlosers Augen trat ein unruhiges Flackern.
»Nein? ... Wir haben gestern telefoniert wegen meines Steuerbescheids«, half ihm Geissler auf die Sprünge. »Na, fällt der Groschen? ... Übrigens wirklich dumm gelaufen mit Ihrem Unfall. Die Wunde sieht übel aus. Ganz übel. Ich weiß nicht, ob wir Ihren Unterschenkel retten können. Ich denke, eher nicht. Sie sollten sich vielleicht besser in Beinloser umbenennen.« Geissler lachte rau. »Aber machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich bin sicher, das wird Sie nicht weiter beeinträchtigen. Sie sind ja schließlich Beamter und üben ihre Tätigkeit vorwiegend im Sitzen aus.«
Dann ordnete er an, den panisch dreinblickenden Handloser in Narkose zu legen.
2. Preis: Alexandra Dorn (77 Jahre), Niedernsill (Österreich)
Die Alte schaffen wir
Max nahm eine Zigarette aus der Schachtel. „Verdammt, die Letzte!“
„Wo bekommen wir nun Nachschub her?“, meinte Tom, „ich habe keinen müden Cent mehr. Bier ist auch leer“.
„Irgendwie müssen wir an Geld kommen. Auf keinen Fall mit Arbeit“, meinte Max. Beide schwiegen im gemeinsamen Entsetzen.
Tom unterbrach das Schweigen: „Ich hätte da vielleicht eine Idee, wie wir auf einfache Art und Weise zu Geld kommen könnten.“
„Schieß los, Alter“, meinte Max aufgeregt.
„Ja also, bei uns im Haus wohnt so eine alte Tante. Die ist schon ziemlich verkalkt. Ich weiß aber, dass sie eine Menge Kohle hat und obwohl sie schon uralt ist, versucht sie, sich auf jung zu trimmen. Ich glaube, sie würde alles tun, um nicht alt zu werden.“
„Ja und wie sollen wir da an Geld kommen“, meinte Max enttäuscht.
„Wir werden ihr ein Anti-Aging-Mittel verkaufen“, sagte Tom triumphierend.
„Hä! Ich verstehe nicht. Wie sollen wir das machen?“ Max sah seinen Freund entgeistert an.
„Wir werden eines erfinden. Wir mischen einfach irgendetwas zusammen. Dann werden wir die alte Tante besuchen und ihr dieses Gemisch als Wundermittel verkaufen.“
„Und du glaubst, dass sie uns das abnimmt?“
„Ja, ich mach am PC noch ein paar tolle Prospekte, dann wird sie uns das Mittel für viel Geld abkaufen“.
Tom war von seinem Plan begeistert, Max nicht. „Na ja, versuchen können wir es ja mal. Und was werden wir in dieses sogenannte Wundermittel hineinmischen. Wir haben doch kein Geld, um Zutaten zu kaufen.“
„Kein Problem“, beruhigte ihn Tom, „ich suche einfach in der Speisekammer meiner Mutter, was wir benutzen können. Machen wir uns an die Arbeit. Zeit ist Geld!“.
Die Mutter von Tom war arbeiten. Tom machte sich gleich an die Arbeit. Er suchte in der winzigen Speisekammer, was er gebrauchen könnte. Max stand etwas hilflos daneben. Tom schnappte sich Orangensaft, rote Beete und eine Flasche Rotwein.
„Was willst du denn mit dem Wein?“, wollte Max wissen.
„Das soll die Sinne etwas verwirren.“ Tom mischte und pürierte alles. Das Ergebnis war eine rotbraune dickflüssige Masse.
„Meinst du wirklich, dass jemand auf so etwas hereinfällt?“, fragte Max skeptisch.
„Klar. Ich werde mich heute Abend noch hinsetzen und die Prospekte erstellen. Ja und dann könnten wir es morgen versuchen.“
„Was, morgen schon?“, rief Max erschrocken, „dann geh ich jetzt mal nach Hause. Wann treffen wir uns?“
„So gegen 11.“ Max verschwand. Tom setzte sich an den PC, den sich seine Mutter vom Mund abgespart hatte.
Am nächsten Morgen konnte Tom kaum abwarten, bis Max vor der Tür stand. „Hi Alter, bereit?“
„Eigentlich nicht. Es ist vielleicht doch nicht so eine gute Idee. Es ist doch Betrug, oder?“
„Stell dich nicht so an! Wenn die verkalkte Alte das Zeugs kauft, dann ist es ihr Problem. Sie wird sich danach sowieso nicht mehr daran erinnern.“
„Na gut!“, meinte Max kleinlaut.
Tom suchte sich das Beste zum Anziehen heraus, das er im Schrank hatte. Auch für Max fand er etwas, da sie die gleiche Größe hatten. Nachdem sie auch ihre Haare mit Mamas Gel seriös gestylt hatten, machten sie sich auf den Weg zu der älteren Dame, die zwei Stockwerke über Tom wohnte.
Nachdem sie geläutet hatten, hörten sie Hundegebell. Sonst tat sich nichts. „Sie ist vielleicht gar nicht daheim“, mutmaßte Max hoffnungsvoll. Sie wollten gerade umdrehen, als sie doch noch Schritte hörten und sich die Tür öffnete. Ein kleiner Pinscher kam herausgerannt und sprang an den beiden hoch. Dabei kläffte und knurrte er abwechselnd.
„Oh, zwei junge Herren! Was für eine Überraschung! Pipi, komm, aus.“ Pipi ignorierte seine Herrin und führte weiterhin seinen Veitstanz auf.
„Oh, er hat mich gerade gezwickt!“, jaulte Max.
„Nein, Pipi beißt nicht. Er will nur spielen“ sagte die alte Dame gut gelaunt, „was kann ich für Sie tun?“ Sie hatte rote Haare und wirkte gepflegt.
„Irgendwie erinnert sie mich an eine Hexe, die gerade Hänsel und Gretel in ihr Haus locken will“, dachte Max innerlich.
„Wir hätten da ein Super Angebot für Sie“, lächelte Tom, „dürften wir Ihnen das vielleicht einmal zeigen?“
Sie überlegte kurz, dann sagte sie freundlich. „Oh, kommen Sie bitte herein.“
Als sie drinnen waren, schubste sie Max mit einer erstaunlichen Kraft in einen großen Sessel. Zu Tom sagte sie: „Und Sie helfen mir in der Küche. Ich koche uns einen Kaffee.“
„Nein, nein, Sie brauchen sich keine Mühe zu machen“, versuchte Tom ihren Tatendrang zu bremsen.
„Doch, es gibt jetzt einen Kaffee“, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Tom trottete hinter ihr her in die Küche. Max saß verloren in dem großen Sessel und sah sich in der Wohnung um. Sie war vollgestopft mit, in seinen Augen, altem Plunder. Dies erzeugte eine düstere Atmosphäre. Er hoffte, bald wieder aus der Wohnung zu kommen. Als Tom mit der alten Dame aus der Küche kam, trug er ein Tablett mit Kaffeetassen und Kuchen.
„Wo hat sie denn so schnell einen Kuchen her? Kann sie hexen?“, schoss es Max durch den Kopf. Nachdem beide eine dampfende Tasse Kaffee vor sich stehen hatten, wollte Tom das Gespräch auf sein Wundermittel lenken. Doch die alte Dame ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Es geschieht in meinem Alter so selten, dass Besuch kommt,“ sinnierte sie vor sich hin und sah ins Leere. Es schien, als hätte sie vergessen, dass die beiden jungen Männer bei ihr waren. Tom und Max sahen sich an. Auf einmal sagte sie. „Oh, entschuldigen Sie bitte. Das war jetzt gerade unhöflich. Wie ist Ihr Name?“
„Ich heiße Peter Maier und das ist mein Partner, Emil Schmidt“, antwortete Tom. „Gut, Herr Maier und Herr Schmidt, was ist Ihr Anliegen?“
Tom legte los: „Gnädige Frau! Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu helfen.“
„Oh, das ist aber fein. Ich hätte da schon etwas. Ich würde aus der Apotheke ein Medikament benötigen, aber der Weg dahin ist immer so beschwerlich, wenn Sie mir dies besorgen könnten.“
„Nein, so eine Hilfe ist es nicht. Aber es ist eine Hilfe, die Ihnen hilft, bald ohne Hilfe Ihr Medikament besorgen zu können.“ Tom war selbst überrascht, dass er diesen komplizierten Satz so hinbekommen hatte.
Sie schaute ihn an. „Sie erinnern mich an meinen Sohn. Ich habe ihn sehr geliebt, aber...“ Auf einmal wirkte sie traurig.
Bevor sie weiterreden konnte, fing Tom wieder zu reden an: „Also, wir hätten da ganz was Besonderes für Sie. Eine Weltneuheit. Wir haben die Exklusiv-Rechte, dieses Wundermittel verkaufen zu dürfen. Sehen Sie hier“, er breitete seine Prospekte vor ihr aus. „Wissenschaftler haben jahrelang an diesem Produkt gearbeitet, bis es die Wirkung zeigte, die wir Ihnen nun vorstellen dürfen.“
Die alte Dame war verstummt. Sie hörte zu, aber irgendwie auch wieder nicht. Tom ließ sich davon nicht beirren. „Ich verspreche Ihnen, wenn Sie dieses Mittel vier Wochen eingenommen haben, werden Sie zu der Apotheke fliegen. Es wurde an 100.000 Versuchspersonen getestet und die Erfolgsquote lag bei 99 %!“ Es wirkte, als wäre die alte Dame von den Worten erschlagen worden. Es herrschte Totenstille im Raum. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören.
Max saß versunken in seinem Sessel, Tom schaute die alte Dame erwartungsvoll an. Jeder wartete darauf, dass der andere etwas sagte. Es war eine groteske Situation. Der Erste, der die Stille unterbrach, war Pipi. Er fing an zu kläffen.
Tom fragte vorsichtig: „Und, was halten Sie davon? Wir haben heute auch ein Sonderangebot für Sie. Wenn Sie sich dazu entscheiden, eine Monats-Packung zu kaufen, erhalten Sie eine zweite gratis dazu. Ich habe hier eine kleine Kostprobe, wenn Sie probieren wollen?“ Er öffnete seine Aktentasche und holte ein kleines Fläschchen heraus.
„Wollen Sie noch einen Kaffee?“, fragte die alte Dame.
Max war die ganze Zeit stumm geblieben. Er antwortete ihr: „Ja, ich hätte gerne noch einen.“ Die alte Dame schlurfte in die Küche.
„Was hältst Du davon?“, fragte Tom flüsternd. Max zuckte nur mit den Schultern.
„Komm, lass uns gehen!“, bat Max. „Nein, ich spüre, dass wir hier ein Geschäft machen können. Sie ist verkalkt, dass merkt man doch. Wir brauchen nur noch etwas Geduld.“
Max war nicht überzeugt. „Sie tut mir irgendwie leid. Ich glaube, sie hat ein trauriges Erlebnis gehabt. Deshalb ist sie so schrullig.“
„Dann frag sie danach. Versuch ihr Vertrauen zu gewinnen, dann kauft sie uns vielleicht etwas ab.“
Als die alte Dame mit dem Nachschub an Kaffee zurückkam, setzte sich Max in Position: „Sie sagten, Sie hätten einen Sohn gehabt? Was ist denn passiert?“
Sie schien zu zögern, doch dann fing sie an. „Er war ein lieber Junge, doch als er älter wurde, veränderte er sich. Hat den ganzen Tag herumgelungert und lag mir auf der Tasche. Er wollte immer den großen Reibach machen, möglichst ohne Arbeit. Wir hatten deshalb ständig Streit. Und dann, eines Tages...“. Sie machte eine Pause, so als würde es ihr schwerfallen, weiterzureden. „Eines Tages kam er nach Hause und erzählte mir, er hätte eine Möglichkeit gefunden, um viel Geld zu verdienen. Ich ahnte, dass dies nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Er wollte alte Menschen aufs Kreuz legen, ihnen Sachen verkaufen, die sie nicht gebrauchen konnten.“
Tom wurde es abwechselnd heiß und kalt. „Ich wurde darüber so wütend, dass ich eine Dummheit machte.“ Sie legte eine kreative Pause ein und sah jetzt irgendwie bedrohlich aus. „Ich mischte ihm ein Schlafmittel in seinen Kaffee...“. Tom wurde es schlecht. Er fühlte schon eine gewisse Schläfrigkeit. „Ja und dann führte ich ihn im Halbschlaf in den Keller und sperrte ihn dort ein.“ Tom und Max hingen ängstlich an ihren Lippen. „Seitdem war ich nicht mehr unten im Keller und das ist schon 40 Jahre her!“
Die beiden Burschen wurden leichenblass. Tom sah demonstrativ auf die Uhr. „Oh, schon so spät! Wir haben heute noch wichtige Termine, gnädige Frau und müssen uns jetzt leider verabschieden. Wir lassen Ihnen die Prospekte da, dann können Sie darüber nachdenken. Wir melden uns wieder bei Ihnen. Danke für den Kaffee!“, meinte Tom. Die Beiden verließen fluchtartig die Wohnung.
„Auf Nimmerwiedersehen!“, rief die alte Dame ihnen nach. Doch dies hörten sie schon nicht mehr. Die alte Dame ließ sich in ihren Sessel fallen und kicherte. „Frieda“, sagte sie zufrieden, „du hast es noch drauf, hast deinen Beruf als Schauspielerin noch nicht verlernt. Wie in früheren Zeiten, als du noch auf der Bühne standest.“
Sie lächelte glücklich vor sich hin. Sie hatte den Burschen von unten sofort erkannt, trotz seines Stylings und wusste, dass er keine Arbeit hatte. Dass er nichts Gutes im Schilde führen würde, ahnte sie. Doch sie hatte Spaß an diesem Spielchen und wahrscheinlich würden die Beiden nie wieder versuchen, einen alten Menschen zu betrügen.
Wettbewerb 2: 14-29 Jahre aus Hessen bzw. geboren in Hessen
Thema: Keine Themenvorgabe
1. Preis: Malige Veronika Sahitolli (15 Jahre), Kassel
ZERO
Ich gucke auf meine Mutter, die mit zusammengebissenen Zähnen auf einen Brief, den sie in ihrer Hand hält, schaut. Ihr Gesicht ist rot und sie hat diesen düsteren und gefährlichen Blick in ihren Augen, an dem ich sofort ablesen kann, dass sie wütend ist.
Ich gucke auf den Umschlag, in dem der Brief bis vor Kurzem noch friedlich gelegen hat. Er liegt geöffnet auf dem Tisch und sieht harmlos aus. Komisch, wie ein Brief einem das Leben von einer Sekunde auf die andere verändern kann. Das Siegel auf dem Umschlag lässt mich erkennen, dass dieser Brief uns mal wieder in Schwierigkeiten bringen wird. Eine kleine Hoffnung steigt in mir auf, dass in dem Brief vielleicht doch etwas Gutes steht, aber dann fällt mir Mamas Blick wieder auf und ich weiß genau, dass das nicht so ist.
Mein älterer Bruder Josh kommt in die Küche und wirft mir einen besorgten Blick zu, nachdem er den fast zerknüllten Brief in Mamas Händen erblickt. Ich gehe zu Mama und sie gibt mir den Brief in die Hand. Ich werfe einen ängstlichen Blick auf ihn und vor mir verschwimmen vor Nervosität die Buchstaben, sodass ich nur Wörter wie Gesetz gebrochen, über rote Ampel und Strafe erkennen kann. Schnell wird mir klar, dass Josh mal wieder Punkte verloren hat und dadurch tiefer im System gerutscht ist.
Seufzend lege ich den Brief weg, gehe verzweifelt aus der Küche und betrete das Zimmer, das ich mir mit Josh teile. Als wir noch viele Punkte hatten, hatten wir ein großes Haus und Josh und ich getrennte Zimmer. Das hat sich jedoch schnell geändert. Ich habe lange gebraucht, um mich an unseren neuen Wohnort zu gewöhnen und ich schäme mich für ihn, deswegen lade ich auch niemals Jemanden zu mir nach Hause ein. Sowieso habe ich kaum Freunde. Freunde haben nur Menschen mit vielen Punkten.
Ich hasse dieses System! Es ist so ungerecht und hart! Unseren Vater haben wir verloren, indem er nur noch sehr wenige Punkte hatte und dadurch keinen Kontakt mehr zu uns aufnehmen durfte. Jetzt wohnt er in einem noch ärmeren Viertel, als unseres und wir können ihn nur wieder sehen, wenn er genügend Punkte hat, um wieder Kontakt mit uns aufnehmen zu dürfen. Ich vermisse ihn schrecklich und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke.
Es ist noch früh am Morgen und ich muss mich für die High School fertig machen, also gehe ich ins Bad und dusche eilig. Dann ziehe ich mich um, mache meine Haare, packe meine Tasche und gehe wieder in die Küche, um zu frühstücken. Ich schmiere mir ein Honigbrot und streichele unsere Hauskatze, die auf meinen Schoß gesprungen ist, um dort ein Nickerchen zu machen. Es ist Herbst und der Herbst ist meine absolute Lieblingsjahreszeit. Alles ist bunt und gemütlich und das Wetter ist einfach perfekt.
Nachdem ich fertig gefrühstückt habe, begebe ich mich in die Schule. Der Weg in die Schule ist gefährlich. Der schlimmste Teil meines Weges wird gekürt durch das Niemandsviertel, das ich durchqueren muss. Dort leben die Menschen mit den wenigsten Punkten. Nachdem ich jedoch das Niemandsviertel hinter mir gelassen habe, folgt der schöne Teil meines Schulweges. Ich laufe durch hügelige Landschaften und Felder. Es ist friedlich und ich bin ganz für mich allein. Es duftet nach Herbst und die Sonne scheint, was mir richtig gute Laune macht. Ich bleibe kurz stehen, betrachte die Landschaft und mache mich dann weiter auf den Weg in die Schule.
Dort angekommen sehe ich meine Freunde schon von Weitem und bemerke, dass meine beste Freundin Lynn noch nicht da ist. Sie ist wie eine Schwester für mich. Wir kennen uns, seit wir Babys sind und sehen uns seither jeden einzelnen Tag! Wir tun alles füreinander und würden einander niemals im Stich lassen!
Meine Freunde lächeln mich an, als ich zu ihnen stoße. Dann setzten sie ihr Gespräch fort.
Nach einer Zeit klingelt es als Zeichen für den Beginn des Unterrichtes. Ich umarme meine Freunde und begebe mich dann in Richtung Klassenzimmer. Jetzt habe ich das Fach „Überwachungstechnologie“. Als ich in die Klasse reinkomme guckt Mona, ein Mädchen, dass alles an mir kritisiert, mich angeekelt an. „Dein Bruder hat wieder Punkte verloren! Ich würde langsam mal anfangen, mich von ihm zu verabschieden, bei deinem Vater hattest du ja nicht die Gelegenheit dazu.“ Sie lächelt mich zuckersüß an und mir wird ganz kalt. „Danke für die Erinnerung,“ sage ich und möchte mich auf meinen Platz setzten, aber sie hält mich an meinem Ärmel fest. „Du bist ein Niemand und das wirst du auch immer bleiben!“ sagt sie bedrohlich. Wütend reiße ich meinen Ärmel, den sie immer noch fest umklammert hält, aus ihrer Hand. Damit stolpert sie und kippt um. Maxon, ihr Freund, guckt mich wutentbrannt an. „Hast du gerade meine Freundin geschubst?“, fragt er und seine Augen funkeln gefährlich. Ich schlucke. Er zückt sein Handy und ruft kurz darauf Jemanden an und dann werde ich zum Schulleiter gebracht.
So kommt es am Ende, dass mir drei Punkte genommen werden, während Maxon und Mona nichts geschieht, da sie viele Punkte haben und somit zu den Menschen gehören, die immer und überall bevorzugt werden. Der Schulleiter lächelt mich in gespieltem Mitleid an. „Du darfst jetzt nach Hause gehen,“ sagt er. Tränen treten in meine Augen. Ich stehe auf und verlasse das Büro.
Nachdem mich niemand mehr sehen kann, renne ich. Ich renne schnell und stoppe erst, als ich die Schule hinter mir gelassen habe und auf dem schönen Feldweg ankomme. Hier ist es friedlich. Mein schneller Atem beruhigt sich und ich setzte mich hin und stemme meinen Rücken gegen einen Baum. Mein Handy kündigt das Erhalten einer neuen Nachricht an, doch ich lese sie nicht mal. Mir ist schlecht und ich kann nicht aufhören zu weinen. Alles ist so schrecklich ungerecht. Als ich zu Hause ankomme schreit meine Mutter mich an und sagt mir, wie enttäuscht sie von mir ist. Nachdem Mama ihre Wut ausgelassen hat, fängt sie verzweifelt zu weinen an und ich umarme sie kräftig. Dann schickt sie mich in mein Zimmer, wo ich mich auf mein Bett lege und dramatisch ausatme. Ich seufze und mein Bruder kommt zu mir und guckt mich ernst an. „Cadence,“ sagt er und ist dann still.
„Wie wäre es, wenn wir endlich etwas unternehmen würden?“
Ich sitze vor einer Gruppe Jugendlicher, die alle mit Josh befreundet sind und die ich noch nie gesehen habe. Auch Freunde von mir, die ich zusammengetrommelt habe, sitzen mit aufmerksamen Blicken vor mir.
Josh räuspert sich und guckt dann vielsagend in die Runde. „Wir freuen uns, dass ihr gekommen seid und euch diesem Risiko entgegenstellt. Das System, in dem wir leben macht uns unzufrieden! Wir wollen das Ganze nicht mehr! Wir sind hier gemeinsam, weil wir alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft haben, ohne Punktwertungen und Gewalt. Wir wollen etwas gegen dieses System tun! Die Zeit ist da für einen Aufstand! Morgen fangen wir schon sofort damit an! Wir werden in der Schule unsere Unzufriedenheit zeigen, indem wir jeden Tag den Unterricht sabotieren!“
„Aber wie sollen wir das denn machen?“, kommt eine unsichere Stimme aus einer Ecke der Hütte. Josh überlegt: „Wir können morgen den Feueralarm auslösen oder eine Bombendrohung ankündigen und den Unterricht verweigern. Wir müssen endlich etwas unternehmen! Die Zukunft unserer Gesellschaft liegt an unserer Generation!“ „Aber das hört sich so riskant an! Und was ist, wenn unser Plan nicht funktioniert?“ fragt Lynn, die sich bei mir eingehakt hat und besorgt in die Runde guckt. „Natürlich ist es riskant und sollte unser Plan nicht funktionieren, dann wissen wir wenigstens, dass wir es versucht haben! Wir müssen jetzt stark sein und kämpfen! Koste es, was es wolle!“, schreit Josh und es folgt lauter Beifall. Wir besprechen, dass Josh morgen den Feueralarm auslösen wird und am Tag darauf Lynn die Bombendrohung macht. Das ganze Planen dauert Stunden, aber nach so langer Zeit, haben wir endlich den Überblick und fühlen uns viel sicherer. Der Tag morgen steht fest und deswegen verlässt jeder voller Aufregung die Hütte, um nach Hause zu gehen, denn es ist schon abends.
In dieser Nacht kriege ich nicht viel Schlaf und fühle mich deswegen am nächsten Morgen wie gerädert. Mir ist vor Aufregung so schlecht, dass ich nicht mal frühstücken kann. Mama ist natürlich aufgefallen, dass mit Josh und mir etwas nicht stimmt, aber wir haben ihr nicht erzählt, woran das liegt. Sie soll nicht besorgt sein!
Nach kurzer Zeit sind wir auch schon auf dem Weg in die Schule. Josh nimmt meine Hand und lächelt mich mutig an. „Wir kriegen das hin!“ Sagt er und ehe ich mich versehe, sind wir auch schon auf dem Schulhof angekommen. Lynn und noch ein Paar andere Leute, die gestern mit uns in der Hütte waren, stehen unter einem Baum und Lynn lächelt mir träge zu.
Josh lässt meine Hand los und ich nicke ihm zu. Das ist das Zeichen, dass er jetzt den Feueralarm auslösen wird. Er geht auf die Schule zu, doch plötzlich öffnen sich die Türen der Schule und viele bewaffnete Männer kommen aus ihr heraus. Mein Herz fängt wild zu schlagen an. „Sind die Männer wegen uns hier? Wissen sie, was wir vorhaben?“ Etliche Fragen schwirren in meinem Kopf. Die Leute auf dem Schulhof werden unruhig. Die Männer heben ihre Waffen und einer deutet mit seinem Gewehr
sogar auf mich.
Ich bin wie in einer Schockstarre und kann mich nicht bewegen. Nicht mal dann, als zwei Männer zu Josh gehen und ihn gewaltsam packen und mit sich ziehen. Auch die Anderen, werden von den Männern gepackt und in einen großen Wagen geschleppt.
Ich zittere wie wild und blicke zu Lynn. Sie weint und kommt zu mir rüber gerannt. Plötzlich ertönt von überall auf dem Schulhof her ein lautes Piepen. Es kommt von den Armbändern der Kinder, die mit uns den Aufstand geplant haben. Mein Herz schlägt noch wilder, als ich merke, dass sich die Zahlen auf den Uhren zur Null verändern. Auch die Zahlen auf meiner Uhr verschwinden und werden plötzlich zur Null. Ich kriege noch mehr Panik und die anderen auf dem Schulhof auch. Sie schreien und weinen.
Ich gucke Lynn voller Verzweiflung an. Sie hat auch Tränen in ihren Augen, aber ist ganz leise. Sie zittert. Ich schaue auf ihre Armbanduhr. Doch dort steht nicht die Ziffer Null, im Gegenteil. Plötzlich ändert sich ihre Ziffer auch, aber nicht so wie bei uns.
Ich kann nicht glauben, was ich gerade gesehen habe, und wische die Tränen eilig aus meinen Augen, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht getäuscht habe. Ich bin kurz vorm Umkippen und schaffe es trotzdem Lynn voller Trauer ins Gesicht zu gucken. Sie kommt einen Schritt auf mich zu, doch ich weiche zurück. „Es tut mir leid.“ Bringt sie stockend und mit Tränen hervor und dann passiert alles ganz schnell. Ich werde von vier starken Händen gepackt, Schmerzen durchströmen meinen Körper und dann wird alles schwarz.
2. Preis & Publikumspreis: Jan Schauenburg (24 Jahre), Kaufungen
Launische Dame
Ich wünsche Ihnen alles Gute vorträglich zum Geburtstag! Das ist ein Satz, den einige sicherlich nicht gerne hören, da der Volksmund sagt, dass er Unglück bringen würde. Ich persönlich bin kein besonders abergläubiger Mensch. Vielleicht geht es Ihnen genauso. Aber irgendwann hat sich bestimmt schon Mal jeder von uns dabei erwischt, wie er dem Aberglauben verfiel. Sei es beim Finden einer Centmünze auf der Straße oder eines vierblättrigen Kleeblattes im Stadtpark, in Gänze frei vom Aberglauben ist dann doch kaum jemand. Ich bin vielleicht nicht gerade der Typ, dem es eiskalt über den Rücken runterläuft, wenn ihm eine schwarze Katze den Weg kreuzt. Jedoch gibt es da eine Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte.
Vor einigen Jahren schlenderte ich ziellos durch die Altstadt meiner Heimatstadt Wespenberg. Ich blickte in eine kleine abgelegene Querstraße. Dort saß in der Ecke eines Fachwerkhauses eine alte Dame mit schneeweißem Haar. Sie trug ein langes, altes, verdrecktes Gewand und vor ihr war eine Decke ausgebreitet mit einem Becher drauf. Sie schien, eine Bettlerin zu sein, doch hatte sie sich dafür eine gänzlich ungeeignete Stelle ausgesucht. In diese abgelegene Seitenstraße bog selten ein Fußgänger ein. Fast schon unterbewusst lief ich zielstrebig auf sie zu. Ich blieb vor ihr stehen. Sie starte mich an. Ich blickte in blassblaue fast weiße Augen. „Ob sie blind ist?“ Frage ich mich.
Ich kramte mein Portmonee heraus und warf ihr einen Euro in den Becher. Fast eine Minute starrte sie mich einfach nur an. Ich fühlte mich von Ihrem Blick durchbohrt. Ein leichtes Lächeln zierte ihr Gesicht. Ein leises „danke“ verließ ihre Lippen. „Gerne keine Ursache“ entgegnete ich. „Dich wird ewiges Glück begleiten“ versprach sie mit ruhiger Stimme. Dankend nickte ich ihr zu, obwohl ich mir nicht sicher war, ob sie überhaupt sehen konnte. Ich drehte mich von ihr weg und kehrte zurück zu der Fußgängerzone.
Als ich dann weiter an den Geschäften vorbei schlenderte, tauchte dieser eine Satz wieder in meinen Gedanken auf. „Dich wird ewiges Glück begleiten.“ „Ewiges Glück“ murmelte ich. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären warum, aber irgendwie schenkte ich der Frau Glauben. „Glück“ murmelte ich erneut. Umgehend beschloss ich, das vorhergesagte ewige Glück auf die Probe zu stellen. Ich betrat einen Zeitungskiosk. Die Türglocke ertönte und eine freundliche Verkäuferin ging auf mich zu. „Guten Tag was kann ich für sie tun“ fragte sie. Ich entgegnete: „Hallo ich hätte gerne eine Lotterieschein“. Sie zeigte mit ihrer Hand auf einen kleinen Stand mit Lottoscheinen, wo ich mich umgehend hin begab und einen Schein ausfüllte. Ich überreichte Ihr den Schein, zahlte und verließ den Laden.
Immer noch waren diese beiden Wörter in meinem Kopf „ewiges Glück.“ Es fühlte sich so an, als wenn ein Floh in meinem Ohr säße, der immer wieder diese zwei Wörter flüsterte. Ich betrat die Bankfiliale, bei der ich schon seit Jahren Kunde war und hob am Schalter eine beträchtliche Summe von 8.000 € von dem gemeinsamen Konto von mir und meiner Verlobten ab. Ich betrat das nächste Casino, ließ mir das Geld in Spielchips eintauschen und begab mich an den Roulettetisch. Ein kurzer Moment der Klarheit überkam mich: „Was mach ich hier gerade eigentlich für einen Blödsinn?“ Fragte ich mich.
Doch dann meldete sich wieder der Floh in meinem Ohr und schrie“ Ewiges Glück, ewiges Glück“ lauter als jemals zuvor. Also nahm ich fast schon geistesabwesend all meine Spielchips und setzte sie auf rot.
Die Scheibe am Roulettetisch fing an sich zudrehen. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit zum Stehen kam blieb die Kugel bei 29 schwarz stehen. „29 Schwarz.“ Rief der Dealer und zog meine Spielchips vom Roulettetisch. Der Floh in meinem Ohr verstummte und mir stockte kurz der Atem. Mit Tunnelblick lief ich aus dem Casino hinaus, ich nahm meine Umgebung gar nicht mehr wirklich aktiv war. Plötzlich streifte mich ein Fahrradfahrer und ich fiel zu Boden. „Guck doch, wo du hinläufst!“ Schimpfte der Radfahrer und fuhr weiter. Ich rappelte mich auf und bemerkte, dass meine Hose am Knie aufgerissen war. „Von wegen ewiges Glück!“ Murmelte ich verärgert vor mich hin. Der Floh war nun endgültig in meinem Gehörgang verendet. Nun war mein einziger Gedanke, wie ich am besten meiner Verlobten Julia beichte, dass ich unser gemeinsames Geld, welches wir für eine neue Küche sparten, verspielt hatte, denn leugnen bringt nichts!
Zuhause hatte ich durch mein Geständnis einen heftigen Streit mit Julia der darin mündete, dass ich auf das Sofa verbannt wurde. Nach meiner Nacht auf dem Sitzmöbel-Exil, beschlich mich an der Arbeit das Gefühl, das meine Pechsträhne immer noch nicht abgebrochen war, als mein Chef mich zu sich ins Büro bestellte.
Ich saß ihm an seinen Schreibtisch direkt gegenüber, selbstzufrieden grinste er mich an und meinte: „Julius ich sag es dir direkt gerade heraus, du bist fristlos gekündigt!“ Fassungslos stammelte ich: „wa.. warum denn das?“ „Wir wissen, dass du aus dem Unternehmen vor gut vier Jahren Geld entwendet hast. Um genau zu sein am 12.04.2013 12.372 € und am 17.06.2013 7.625 €.“ Erklärte er mir.
„Woher wisst ihr das?“ Fragte ich verdutzt. Mein Chef offenbarte mir: „Von Julia. Ich habe seit etwa einem Jahr eine Affäre mit ihr und durch deine dämliche Aktion gestern hat sie sich endlich dazu entschieden, dich zu verlassen. Versuch erst gar nicht, die Kündigung anzufechten, die Beweise, die ich von Julia habe, sind mehr als eindeutig.“ Er hörte auf zu reden, er wartete sicherlich auf eine Antwort von mir, doch ich starrte ihn nur verdutzt an. Ich hätte niemals erwartet, dass Julia so etwas tun würde, vor allem da das Geld für sie war. Sie war damals hoch verschuldet gewesen und jeder einzelne Cent war dafür gedacht, dass sie ihrer Schulden abbezahlen konnte. Mein Chef fügte noch hinzu: „Achja dir ist sicher auch klar, dass sie nicht mehr da sein wird, wenn du nach Hause kommst, sie wohnt nun bei mir.“
Ich stand auf und verließ sein Büro. Viele von ihnen hätten sicherlich erwartet, dass ich komplett ausraste, ihn anschreie oder vielleicht sogar weine? Aber nein dem war nicht so. Erst breitete sich in mir an Gefühl aus maßloser Enttäuschung aus, welches dann durch einen Flächenbrand aus emotionaler Leere verdrängt wurde. Nichts. Ich fühlte absolut nichts mehr.
Keine halbe Stunde später fand ich mich in einer alten ranzigen Kneipe am Sportplatz wieder. „Das Wespennest“ eine Fankneipe des Regionallegisten TuSpo Wespenberg 05. Die Kneipe war fast komplett leer. Abgesehen von mir, waren nur der Barkeeper und ein alter, dickbäuchiger Mann, welcher direkt neben mir an der Bar saß, dort. „Was darf`s sein Jungermann?“ Fragte mich der Barkeeper. Verschwitzt lächelte ich ihn an und entgegnete: „Ein anderes Wort für behaarte Jugendliche?“ „Bitte was?“ Fragte er verwirrt. „Veltins (Fell Teens)“ Klärte ich auf. Der Barkeeper musste kurz schmunzeln und stellte mir dann eine Flasche auf den Tresen. Der Mann neben mir schaute mich verdutzt an. „Was macht ein junger Mann wie du in so einem feinen Anzug um nicht mal 12 Uhr mittags in so einer schmierigen Spelunke?“ Fragte er mich. „Mich verfolgt das Pech.“ Entgegnete ich kurz und knapp. „Ja Fortuna ist eine launische Dame“ murmelte er.
Das Nächste woran ich mich erinnern konnte war, wie ich im Krankenhaus wach wurde. Später erfuhr ich, dass ich einige Biere später vom Barhocker gefallen war, mir den Kopf angestoßen und den Arm gebrochen hatte.
„Ich habe keinen Bock mehr auf den Mist! Am liebsten würde ich alles aufgeben, aufs Land ziehen und Alpakafarmer werden!“ Fluchte ich lautstark vor mich hin. „Das klingt nach einen guten Plan!“ Hörte ich eine liebliche Stimme sagen. Ich drehte mich in Richtung der Geräuschquelle und bemerkte eine junge Pflegerin, die grinsend in der Tür stand. Ich erzählte ihr, was passiert war und irgendwie waren wir uns direkt sympathisch. Sie kam jeden Tag in ihrer Pause mit zwei Schälchen Milchreis auf mein Zimmer. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt und jedes Mal bevor sie ging, kritzelte sie mir was auf den Gips. Erst ein Alpaka, dann ein Haus und dann eine Blume.
Nach vier Tagen wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Am letzten Tag kritzelte sie etwas auf den Gips an eine Stelle, die ich nicht sehen konnte. Als ich das Krankenhaus verließ, sah ich in der Spiegelung der Eingangstür, dass sie mir ihre Handynummer auf den Gips geschrieben hatte. Plötzlich zuckte ich zusammen, denn die alte Frau aus der Fußgängerzone stand auf einmal vor mir. „Gehen sie weg, sie haben mir nur Unglück gebracht.“ Brüllte ich sie an. „Ist das so?“ Fragte sie gelassen. Bevor ich sie weiter anbrüllen konnte, fügte sie hinzu: „Warst du nicht unglücklich gewesen in deinem Job und deiner Beziehung? Hast du nicht gerade eine nette junge Dame kennengelernt und den Weg zum Glück gefunden? Die Menschen fordern immer wieder nach Glück, doch wenn es vor ihnen steht, dann erkennen sie es nicht. Sie neigen immer wieder dazu, Glück mit finanziellen Wohlstand zu verwechseln. Doch das Eine hat mit dem Anderen nichts zu tun.“ Verwundert fragte ich: „Woher wissen sie? Wer sind sie eigentlich?“ „Julius du weißt genau wer ich bin!“ Entgegnete sie bestimmt. Ich schaute kurz nachdenklich nach unten, als ich den Kopf wieder hob, war die Dame verschwunden. „Fortuna“ flüsterte ich leise.
Wettbewerb 3: Schülerinnen und Schüler aus dem Landkreis und der Stadt Kassel
Thema: Keine Themenvorgabe
1. Preis & Publikumspreis: Tabita Schmidt, Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule (Kassel)
Kopf und Herz oder: Wie ich lernte, mit dem Herzen zu denken
Thinka
Heute war wieder einer dieser Tage, an dem sich ihr Vater vor Schimpfen über die Emotionalen überhaupt nicht einkriegen konnte. Die Emotionalen – so wurden die Leute in der Gesellschaft betitelt, die einfach zu gefühlvoll für dieses System waren. Sie konnten und wollten nicht damit umgehen, dass die Menschen durch Roboter ersetzt wurden. Ob im Supermarkt, in Apotheken oder so ziemlich überall sonst. Vor allem aber, dass man dadurch kaum noch Kontakt zu anderen Menschen hatte. Anstatt Berufe auszuüben, die es früher einmal gegeben hatte, programmierte man heutzutage verschiedenste Roboter.
Thinka liebte es, zu programmieren. Thinka – so hatten sie ihre Eltern genannt, nach dem englischen Wort think – denken. Sie hatten schon damals immer gesagt, dass sie ein Mädchen mit großem Verstand und logischen Gedanken sein würde. Sie war irgendwie stolz darauf gewesen, doch musste es gut verbergen. Gefühle waren nicht erwünscht, was sie aber auch gut fand. Sie konnte sich auf Wichtiges konzentrieren und lernte von klein auf, ihre Gefühle zu verbergen. Gefühle mussten verdrängt werden, sodass sie sich nicht in ihrem Kopf – oder noch schlimmer, in ihrem Herzen – festigen konnten. Denn ohne seine Gefühle zu zeigen, war man viel unverletzlicher – und das liebte Thinka so an dem System, das sich innerhalb der letzten Jahre durchgesetzt hatte.mGerade hatte sie ihren ersten Roboter programmiert, der für einen Supermarkt bestimmt war und schon bald eingesetzt werden würde. Doch sie konnte ja nicht ahnen, dass das in ihrem Leben alles verändern würde.
Sentimiento
Ich las gerade in einem Buch über das alte System, das ich leider nicht mehr miterlebt hatte, als ich hörte, wie der Schlüssel sich im Schloss umdrehte und Mama von der Arbeit nach Hause kam. Sie arbeitete in einem der einzigen Supermärkte, in denen noch Menschen arbeiteten. Ich stand auf, um sie zu begrüßen. „Hallo Mama! Wie war dein Tag?“, fragte ich fröhlich und umarmte sie herzlich. „Hallo Senti! Ganz gut, denke ich“, sagte sie, doch ich sah genau, dass das nicht stimmen konnte. Sie sah so erschöpft und niedergeschlagen aus. Senti – so hatte sie mich, als ich noch klein war, sehr oft genannt. Es war eine Abkürzung für Sentimiento – das hieß auf Spanisch Gefühl. Und ich fand mein Name passte zu mir, so sensibel wie ich war.
„Sicher? Du siehst so niedergeschlagen aus.“ „Das bin ich auch.“ Ich wollte unbedingt wissen, was denn Mamas Tag so anstrengend gemacht hatte, als es aus ihr rausplatzte: „Ich werde ersetzt. Durch einen Roboter, den ein Mädchen programmiert hat.“ Oh nein! Und ich hatte gedacht, es wäre nur einer dieser Tage, an denen Mama einfach nicht damit klarkam, dass die Rationalen – oder wie sie von manchen von uns oft genannt wurden: die Gefühlslosen – nicht mit ihr sprachen. Aber es war schlimmer: Mama würde den Job verlieren, der uns über Wasser gehalten hatte, denn auch Papa konnte keinen Job mehr finden.
Alles an Personal – außer Ärzten – war schon ersetzt worden. Doch auch daran wurde schon lange gearbeitet. Eigentlich hatten wir schon lange mit dieser Nachricht gerechnet. Doch nun wusste ich nicht wirklich, wie ich reagieren sollte und so nahm ich Mama einfach ganz fest in den Arm. Erst jetzt begriff ich, wie schnell sich das Leben doch ändern konnte.
Thinka
Sie war schon früh aufgewacht und hatte den Robotern beim Putzen zugesehen. Heute war ein besonderer Tag, denn ihr selbst programmierter Roboter wurde heute eingesetzt. Es würden viele Gäste kommen, unter anderem sogar die Frau, die abgelöst wurde. Sie freute sich insgeheim schon sehr, zu sehen, wie diese davon begeistert sein würde, wie der Roboter ihr die Arbeit abnahm. Dann könnte sie im Programmieren unterrichtet und vielleicht sogar zu einer Rationalen werden. Bald würden sie mit dem Auto losfahren, das Thinka mit ihren Eltern programmiert hatte. Die Einsetzungsprozedur würde im Supermarkt starten und bei ihnen zu Hause mit Kaffee und Kuchen enden. Es würde sehr außergewöhnlich werden, da es nicht oft gesellschaftliche Ereignisse gab, vor allem nicht mit Emotionalen. Es würde ein Ereignis werden, das sie nicht vergessen würde.
Sentimiento
Heute war ein grauenvoller Tag. Wir waren bei dem Mädchen, das den Roboter programmiert hatte. Es war schrecklich, wie ausgelassen die Stimmung war und ich wünschte, wir wären nicht gezwungen worden, zu kommen. Naja, Mama wollte es, um nicht unhöflich zu sein. Die Leute saßen an Tischen und aßen Proteinkuchen. Als hätte jemand Geburtstag. Diese Leute waren so scheinheilig! Erst besaßen sie die Dreistigkeit, meine Familie einzuladen, und dann waren sie so fröhlich, obwohl sie uns doch immer vorwarfen, zu emotional oder gar zu dumm zu sein, um zu programmieren oder logisch zu denken. Ich war eigentlich ein gutmütiger Mensch, doch jetzt reichte es mir. Ich hielt es nicht mehr länger aus! Ich war so wütend auf das Mädchen! Nein, eigentlich auf das ganze System. Ich fühlte mich, als müsste ich diese Wut sofort an irgendetwas – oder jemandem – auslassen. Aber ich wollte niemandem wehtun. Also stand ich auf und ging raus. Doch die Person, der ich dort fast in die Arme lief, wollte ich wirklich nicht sehen.
Thinka
Sie war gerade draußen gewesen, um ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, als der Sohn der Frau, die abgelöst wurde, fast in sie reinlief. Sie wollte am liebsten wieder reingehen, um nicht in zu engen Kontakt mit ihm zu kommen. Thinkas Vater hatte ihr immer gesagt, dass genug Abstand zu den Emotionalen wichtig war, um sich nicht von ihnen beeinflussen zu lassen. Doch es kam ihr unhöflich vor, einfach zu gehen. Also sagte sie: „Hallo, ich bin Thinka.“ „Sentimiento“, antwortete er knapp. Sie fragte: „Was machst du hier draußen?“ „Mich abreagieren und du?“, sagte er und sie sah Wut in seinen Augen. Warum war er wütend? Oder hatte sie das falsch interpretiert?
Dann fiel Thinka wieder ein, dass er sie etwas gefragt hatte. Und sie ärgerte sich. Es war dumm gewesen, ihn das zu fragen, denn es war klar, dass er zurückfragen würde. Jetzt musste sie ihm antworten. Er würde sie doch für vollkommen unlogisch halten. Doch sie sagte ihm trotzdem, warum sie hier war. Er antwortete sauer: „Ich verstehe euch einfach nicht. Warum dürft ihr Gefühle nicht zeigen? Jeder Mensch hat Gefühle. Man ist genauso verletzlich, wenn man sie nicht zeigt, so ist es noch gefährlicher: Keiner kann die Wunde versorgen, da niemand weiß, dass man sie hat. Da musst du doch kaputtgehen. Und auch Freude zu teilen, ist doch toll. Wann versteht ihr denn endlich, dass Gefühle kein Zeichen von Schwäche sind? Ich dachte, ihr wärt schlau genug, um das zu verstehen. Ihr seid doch so schlau! Oder verbergt ihr eure Schlauheit seit Neuestem auch, so wie eure Gefühle?“
Sentimiento war immer lauter geworden. Und erst jetzt merkte er, wie laut er wirklich war. „Was war das denn jetzt für ein Ausbruch? Was habe ich dir denn getan?“, fragte sie und wusste zugleich die Antwort. Sie hatte ihm nichts getan, aber er fand das System nun mal schrecklich. Dazu hatte er sich ja jetzt mehr als deutlich geäußert. „Was du mir getan hast? Meine Mutter ist wegen dir arbeitslos und du willst mir anscheinend einfach nicht zuhören“, sagte er und ließ sie einfach stehen. Thinka musste an diesem Tag noch oft an das denken, was Sentimiento gesagt hatte. Und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr verstand sie ihn und erkannte, dass er Recht hatte. Das System war einfach nicht so logisch, wie es vorgab, zu sein und wie sie immer gedacht hatte.
Am nächsten Tag setzte sie dem Grübeln ein Ende und ging zu Sentimiento, um sich zu entschuldigen. Es war dumm von ihr gewesen, alles einfach hinzunehmen und das System nicht zu hinterfragen. Der Weg war lang, da die Emotionalen und die Rationalen nicht im gleichen Ort lebten. Doch sie nahm den Weg auf sich.
Sentimiento
Es klingelte an der Tür und ich lief in den Flur, um sie zu öffnen. Ich war sehr überrascht, als ich Thinka sah. Sie sagte nur: „Können wir einen kleinen Spaziergang machen?“ Und ich bejahte. Ich war neugierig, was sie wollte, und zog mir die Schuhe an. Dann folgte ich ihr. „Sentimiento, du hast Recht. Dieses System ist vollkommen bescheuert und unlogisch und es fehlt die Menschlichkeit.“ Ich wunderte mich ein wenig über den Ausdruck und hörte ihr aufmerksam zu. „Ich habe es nie hinterfragt. Und das war so dumm von mir. Programmieren mag mir vielleicht Spaß machen. Doch es ist nicht das, was alles bestimmen sollte. Und Gefühlslosigkeit ist unsinnig und der falsche Weg. Ich habe seit gestern kaum an was anderes gedacht als daran. Verzeihst du mir?“ Ich blickte sie an und war so froh. In ihrem Gesicht sah ich ein Lächeln. Das erste, seitdem ich sie kennengelernt hatte. Und es stand ihr so gut!
Thinka
„Ja. Natürlich vergebe ich dir“, sagte er und lächelte zurück. Ich blickte in seine braunen Augen und strahlte noch mehr. Dann ergriff ich seine Hand und in meinem Bauch kribbelte es vor Freude. Ich hätte niemals gedacht, dass ich das einmal tun und meine Gefühle zulassen würde. Es fühlte sich so unglaublich gut an!
Es war ein düsterer Morgen. Die ganze Stadt war leblos und leer, und es tobte der zerstörerrischste Sturm den die Gegend jemals gesehen hat. Man konnte das Pfeifen des Windes auch durch die dicksten Wände hören. Jeder einzige mit gesundem Verstand ziterte vor Angst, in den dunklen Räumen seiner Wohnung versteckt, und wartete bis die Wolken endlich vorbeiziehen. Bob hingegen rührte das alles nicht wirklich. Er lag, wie jeden Nachmittag, in seinem Bett und machte seine Hausaufgaben. Bob war nicht besonders gut in der Schule. Sein Zeugnis bestand aus lauter vieren und fünfen, und er wäre schon mehrmals sitzen geblieben, wenn er nicht so ein Mathe-Genie wäre. Er liebte das knobeln und hate enormen Spaß an jeglichen Matheaufgaben.
,Den Rest mache ich später‘‘ sagte er zu sich selbst, und tauschte sein Deutschheft für sein geliebtes Mathe-Rätselbuch aus. Es war schon sein neuntes diese Woche. Diese Bücher waren mehr oder weniger seine einzige Freizeitbeschäftigung, aber er brauchte auch nur sie. Er war komplett besessen damit, jedes einzelne Rätsel zu lösen was die Autoren ihm vorgaben, und er verbrachte den Rest des Tages, genau dies zu tun.
Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm vom gestrigen Tag gelegt. Die Sonne schien und die Vögel zwitscherten, als ob das Unwetter vom Vortag nie geschehen wäre. Bob saß an seinem Schreibtisch und durchstöberte das Internet nach Knobelbüchern, aber ohne Erfolg. ,,Das hab ich schon, das auch, das hier auch…‘‘ murmelte er vor sich hin. Er war verzweifelt. Was sollte er ohne die Bücher den ganzen Tag machen?
Er lehnte sich zurück und warf einen Blick aus dem Fenster. Er beobachtete einen Baum auf der anderen Straßenseite, wo eine Vogelmutter gerade ihre Küken fütterte. Doch auf einmal fitzte etwas durch die Blätter des Baumes. Bob richtete sich auf, da er nicht genau erkennen konnte, was es war: ,,Hm, vermutlich einfach der Wind‘‘. Doch dann passierte es nochmal. Diesmal konnte Bob etwas mehr erkennen. Es war ein kleines, braunes Tier mit einem langen Schweif und kurzem Fell. ,Was ist das?‘‘ fragte er sich. Ein paar Sekunden später zeigte sich das Wesen dann endlich, mit einer Walnuss in den Händen. Es war ein kleines Eichhörnchen. Bob dachte sich nichts dabei. Er hatte schon einige Eichhörnchen gesehen.
Er lehnte sich wieder zurück und schaute auf eines der Hochhäuser hinter dem Baum. Auf einmal kam ihm eine Idee auf. Er schnappte sich seinen Block und seine Stifte und rechnete drauf los. Nach etwa einer halben Stunde hatte er fertig getüftelt. Außer Zahlen und Rechenzeichen konnte man nur schwer erkennen, was er dort geschrieben hatte, aber er war sichtbar fasziniert von was auch immer es war. Er schnappte sich den Block und stürmte die aus seinem Zimmer, die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer, wo er strahlend das Papier vor seinen Eltern hochhielt. ,Ich muss nach Dubai, und zwar jetzt!‘‘ rief er quer durch den Raum.
Seine Eltern schauten ihn verwirrt an. ,Was ist denn mit dir los?‘‘ fragten ihn seine Mutter und sein Vater gleichzeitig. ,Nach meinen Berechnungen…‘‘ er überflog noch einmal sein Blatt, ,,Wenn man ein Eichhörnchen vom Burj Khalifa, dem höchsten Gebäude der Welt, runterfallen lässt, überlebt es!‘‘ Bobs Eltern sahen ihn noch verwirrter an. ,,Wegen des geringen Gewichts ist die Terminale Geschwindigkeit zu…‘‘ ,,Ja ja ja, wir verstehen sowieso nichts. Spar es dir‘‘ unterbrach ihn sein Vater. ,,Also???‘‘ fragte Bob neugierig.
Seine Eltern schauten sich kurz an, als ob sie Gedanken austauschen würden. ,,Das mit dem Eichhörnchen kannst du doch nicht machen. Das ist Tierquälerei. Aber wegen mir können wir einen Kurzurlaub machen‘‘ sagte seine Mutter. Bobs Augen strahlten vor Freude. Er musste sich nur einen Plan überlegen.
Am nächsten Tag hatte Bob schon seinen Koffer gepackt und war mehr als bereit auf die Reise. Währenddessen hatten seine Eltern noch die Schlafanzüge an. Er wartete geduldig im Wohnzimmer, aber erinnerte sich an die wichtigste Sache des ganzen Urlaubs… das Eichhörnchen. Bob dachte nach, denn er wusste nicht, wie er eines fangen sollte… geschweige wie er es unbemerkt auf das Flugzeug schleichen würde.
Er ging nach draußen, zu dem Baum, wo er den Tag zuvor das Eichhörnchen gesehen hatte, welches ihm zu diesem Punkt brachte. Er schlich sich unter den Baum und entschied sich dazu, einfach sein Glück zu versuchen. Das Eichhörnchen war immer noch im Baum, und Bob wartete den richtigen Zeitpunkt ab, um loszuspringen. Etwa fünf Minuten vergingen, aber Bob war noch immer erfolglos. Doch dann… ,,Endlich‘‘ dachte er sich. Der kleine Nager war in der perfekten Stelle.
Bob machte sich bereit, fokussierte sich und… ,,Hab ich dich‘‘ rief er fröhlich, mit dem kreischenden Eichhörnchen in der Hand. Er wickelte es in ein Handtuch und brachte es schnell ins Haus, wo er es in seinem Rucksack vergrub. Nun war er bereit für sein Experiment. ,,Abfahrt‘‘ rief Bobs Vater durch die Wohnung. Bob stand schon lange am Auto und konnte seine Aufregung kaum halten. Nach ein paar Minuten war die Familie dann bereit zur Abfahrt, und Bob war in seinem ganzem Leben nie so aufgeregt gewesen. Und dann, nach dem Einstellen des Navis, ging es los.
Eine Stunde später waren sie am Flughafen angekommen. Sie holten ihr Gepäck aus dem Kofferraum, kauften das Parkticket und betraten dann schließlich den Flughafen. Bob war etwas nervös, immerhin hate er ein lebendes Eichhörnchen dabei, aber er versuchte, es so gut wie möglich zu verstecken. Einige Zeit später war es Zeit für die Gepäckkontrolle. Bobs Eltern gingen vor, während Bob selbst seine Pläne hinterfragte. Aber es war zu spät um noch umzukehren. Er legte seinen Rucksack auf das Fließband und hoffe einfach, dass es gut ging.
Kurz bevor sein Rucksack auf dem Bildschirm zu sehen war, sagte Bob zu der Mitarbeiterin: ,,Was ist weiß, summt, und kann fliegen?‘‘ er bekam keine Antwort, nur einen genervten Blick. ,,Biene Mayo!‘‘ sagte Bob, und man konnte sehen, wie peinlich es ihm war. Doch sein Plan war aufgegangen. Die Kontrolleurin hate das Eichhörnchen nicht bemerkt! Bob grinste vor Freude und nahm seinen Rucksack vom Fließband runter.
Nach etwa einer Stunde Wartezeit war es endlich soweit. Das Flugzeug war bereit, und Bob ebenfalls. Seine Eltern haten einen Platz am Fenster für ihn gebucht, was ihn sehr gefreut hat. Er liebte es, sich aus dem Flugzeug das Meer aus Wolken anzuschauen. Doch er hate nicht viel Zeit dafür, da er kurz nach dem Abflug eingeschlafen war. Als er wieder aufwachte, war er schon am Flughafen von Dubai angekommen. Er hatte sich so auf diesen Tag gefreut. Diese Aktion würde ihn vermutlich nicht so bekannt machen wie Albert Einstein, aber er war trotzdem unfassbar gespannt.
Die Familie machte sich auf den Weg in ihr Hotelzimmer. Es war zwar nicht im Burj Khalifa, aber der Ausblick war dennoch wunderschön. Bob konnte seine Aufregung kaum noch in Grenzen halten, was seine Eltern nicht ganz verstanden, immerhin hatten sie schon häufiger solche Urlaube gemacht. Einige Zeit später, mit dem Gepäck vollständig in den Schränken verstaut, war endlich der Burj Khalifa das nächste Ziel. Er war nicht besonders weit von ihrem Hotel weg, und Bob würde in Windeseile dorthin sprinten, wenn er nicht auf seine Eltern warten müsste.
,Was machst du denn so einen Stress?‘‘ fragte seine Mutter erschöpf. ,,Nichts‘‘ antwortete ihr Sohn. Fünf Minuten später hatten sie ihr Ziel endlich erreicht. Vor ihnen stand genau das riesige, gigantische Hochhaus, was Bob schon so oft im Fernsehen gesehen hatte. Er stürmte durch die Tür und betätigte einen der vielen Fahrstühle, in welchen er dann mit seinen Eltern hineintrat, und alle 163 Stockwerke hochfuhr, auf die Dachterrasse. Seine Eltern hatten sich direkt an das Geländer gestellt und genossen die Aussicht, während Bob gespannt auf die andere Seite huschte.
Der Moment war gekommen… Er hatte sich so darauf gefreut… er war bereit, die größte wissenschaftliche Entdeckung der Weltgeschichte zu machen. Er packte das Handtuch aus seinem Rucksack und schaute noch einmal hinein, darin war das schlafende Eichhörnchen. Bob fing an vor Aufregung zu zittern. ,,Sorry‘‘ flüsterte er dem Nager zu, bevor er ihn aus 800 Metern Höhe losließ… FORTSETZUNG FOLGT
2. Preis: Ronja Reinstädt, Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule (Kassel)
Lebensbaum
Ich liebe es, wenn der Wind durch meine Blätter weht und sie so zum Rascheln bringt. Ich liebe es, wenn der Regen auf meine Blätter trommelt und sie so zum Glänzen bringt. Ich liebe es, wenn die Sonne auf meine Blätter scheint und sie so zum Leuchten bringt. Es ist wie Leben, das durch mich wie durch alle anderen hindurch fließt, das mich weckt und für meine Umwelt empfänglich macht.
Wie alle anderen Baumgeister bin ich alt, sehr alt, ja so alt sogar, dass ich vieles um mich herum überrage und als Baum der Weisheit gelte, da ich schon so viel Gutes und Schlechtes mitbekommen habe. Das meiste Schlechte wurde von Menschen verursacht. Ja, die Menschen, oh, wie ich sie hasste und verachtete, doch nun verstehe ich vieles von dem, was sie tun und getan haben.
Wie auch die Geschichte, die ich nun erzählen werde: Es war dunkel, sehr dunkel, so dunkel, wie es nur im Regenwald sein kann. Doch wenn man genau hinschaute, sah man das Licht des Himmels, welches uns dieser spendete in Form von Abermillionen Sternen und dem Mond, welche um die Wette strahlten. In dieser längst vergangenen Zeit war ich jung und unwissend. So lauschte ich den Tieren, von denen immer welche wach waren, und genoss die Ruhe und die Friedlichkeit.
Als ich plötzlich ein Vibrieren spürte und es still wurde, viel zu still. Durch das Myzel merkte ich jetzt auch die Unruhe der anderen Bäume. Am Morgen war die angespannte Atmosphäre immer noch nicht gewichen, doch nun fing die Tiere an panisch umherzulaufen und ich konnte Wortfetzen aufschnappen: Menschen, Gefahr, Maschinen, Flucht. Die Worte ergaben keinen Sinn, doch es war klar, dass es nichts Gutes verheißen konnte, denn Menschen wurden von fast allen Waldbewohnern gefürchtet, da es immer wieder vorkam, dass besonders seltene oder schöne Tiere getötet oder verschleppt wurden. Doch in dem Regenwald, in dem ich lebte, gab es trotzdem eine bunte Artenvielfalt, welche in Symbiose lebte. Ich war froh darüber, dass wir bis dahin verschont wurden, da ich das Getümmel in meinen Kronenstockwerken liebte und genoss.
Leider wurde die Panik nicht besser und auch ich machte mir langsam Sorgen, als Jahr für Jahr mehr und mehr Tiere in meine Region kamen. Es war die Rede von riesigen Maschinen, die Bäume verschlangen, und von so vielen Menschen wie sie seit Jahren nicht mehr hier gewesen waren. Ich hatte mitbekommen, dass es vor vielen, vielen Jahren schon Abholzungen des Waldes gegeben hat, die aber irgendwann eingestellt wurden, weil die Werkzeuge zu schlecht waren und viele Menschen mit den Lebensbedingungen hier nicht umzugehen wussten. Sie konnten sich weder an die Hitze, den Regen, noch all die Tiere anpassen, was der Natur zugunsten gekommen war.
Seitdem war so etwas nie wieder vorgekommen und der Regenwald konnte sich unglaublich gut regenerieren. Doch Maschinen, die in Sekunden Schnelle Bäume töteten, waren eine ganz andere Nummer als ein paar Menschen mit stumpfen Äxten und das war allen nur zu gut bewusst. Viele Tiere dachten darüber nach, sich in einem anderen Wald häuslich zu machen und dort zu leben. Jedoch die Tiere, die so etwas probierten, kamen trotz des Wunsches, ihre Heimat zu besuchen, nie zurück. Ob es an den Menschen, den dortigen Tieren oder den anderen Pflanzen lag, wusste niemand. Vielleicht war es auch einfach nur so schön, dass sie nicht zurückkamen.
Aber die Ungewissheit ließ auch jetzt die allermeisten Tiere bei mir bleiben. So zogen sie sich immer weiter in den Wald zurück, um dort Schutz zu finden. Ich spürte in diesen Jahren das Vibrieren langsam aber stetig näher kommen, nur dass ich nicht einfach wie die Tiere verschwinden konnte. Umso näher das Vibrieren kam, desto mehr spürte ich den Schmerz und die Trauer der anderen Baumgeister. Immer wenn einer von ihnen starb, fühlte ich mich hilfsloser und einsamer den je. Es machte mir große Angst, nicht zu wissen, was als nächstes kommt. Diese Unwissenheit und die Angst verwandelte sich mit der Zeit in Wut und Hass gegen all diejenigen, die der Natur so etwas antun. Ich verstand nicht, warum sie uns das antaten, wo sie doch auf uns angewiesen sind. Wir sind die, die ihnen Luft zum Atmen geben, die vormachen, wie man im Einklang lebt und die, die vor ihnen da waren. All die Gefühle und Gedanken flossen in jener Zeit durch meine Adern und ließen mir keine Ruhe. Niemals hätte ich damit gerechnet, Menschen mögen zu lernen. Im Gegenteil!
Eines Tages, als die Maschinen schon so nah waren, dass ich dachte, von dem Lärm verrückt zu werden, kamen viele, viele Menschen in den noch unberührten Wald. Sie waren laut, brüllten und hielten Schilder hoch. Ein paar von ihnen kletterten sogar auf Bäume oder banden sich an ihnen fest, ja auch an mir und ich war so verwirrt und überrumpelt, dass ich nicht auf das achtete, was sie sagten. In dem Lärm aus Maschinen, Menschengebrüll und Tiergeschnatter wäre sowieso nichts zu verstehen gewesen. Doch als nach und nach alle Maschinen verstummten, konnte ich manches von dem Geschrei verstehen: Natur schützen, Tiere retten, Abholzung stoppen…
Erst verstand ich nichts, dann rannten Arbeiter aus dem lichten Gestrüpp, welche die Menschen in bunten Klamotten mit den Schildern anbrüllten und sich teilweise mit ihnen schlugen und da fing ich an zu verstehen: Einige der Menschen wollten uns, dem gesamten Regenwald, ehrlich und wahrhaftig helfen und andere wollten genau das Gegenteil. Ab diesem Moment wünschte ich mir so sehr wie ich mir noch nie etwas gewünscht hatte, dass die Menschen es schafften, den Wald zu retten.
Nach einer Weile gingen die ersten Arbeiter und nach ihnen immer mehr, doch die demonstrierenden Menschen blieben und die Maschinen blieben still. Es war die ruhigste Nacht seit langer Zeit. Und ich fing an, den Menschen, weil sie halfen, zu verzeihen. Doch nach einigen Tagen, in denen niemand von den Demonstrierenden gegangen war, kamen uniformierte Menschen, welche weder brüllten, noch die Helfenden schlugen. Nein, sie blieben die gesamte Zeit ruhig, banden die andern von Bäumen, holten sie von diesen herunter und führten alle ab.
Ich wusste nicht, wie es weiter gehen sollte oder was als nächstes passieren wird, doch ich fühlte mich wieder ruhiger und lebte ohne ständige Angst. Einige Jahre passierte nichts und so trauten die Tiere sich mit der Zeit wieder aus ihren Verstecken im tiefen Wald. Noch waren sie verschreckt und ängstlich, doch das würde mit der Zeit besser werden und die hatten wir jetzt, da ich mitbekommen hatte, dass diese Region von nun an ein Naturschutzgebiet sein sollte. Manchmal kamen Menschen und erforschten Tiere, Pflanzen oder etwas ganz anderes, doch sie waren bei ihrer Arbeit vorsichtig und so störte sich niemand daran.
Wenn man ganz nach oben in meine üppige Krone klettert, kann man in weiter ferne Hochhäuser sehen und der Wald ist viel kleiner als früher, aber wir passen uns an und glauben daran, es schaffen zu können. Seit vielen Jahren verändert sich das Klima und es gib auf der ganzen Welt verschiedene Vorkommnisse, die die Menschen Katastrophen nennen, doch ich bin nun überzeugt, dass die Menschen es wie wir schaffen können, dass vieles besser wird, wenn sie es wirklich wollen und dafür einsetzen. Wir Bäume sind die, die alt werden, so viel älter als alles andere und die, die alle Geschichten waren und hüten, die guten sowie die schlechten
2022 - 20. Holzhäuser Heckethaler
Thema: MitMenschen
Wettbewerb 1: 14-29 Jahre aus Hessen bzw. geboren in Hessen
1. Preis & Publikumspreis: Marika Christin Hack (17 Jahre), Hofgeismar
Der Taucher
Es ist halb sieben und der Wecker schrillt durch das kleine Zimmer. Sein erster Handgriff ist es wie an jedem Morgen das alte Blechradio anzuschalten. Es erklingt fröhliche Musik und die melodische Stimme des Sprechers wünscht ihm einen guten Morgen. Er zieht sich an, steckt den Collageblock sowie seine Karteikarten in den abgenutzten Rucksack und stellt das Radio wieder aus. Als er die Treppe zur Küche runter steigt, herrscht im Haus noch toten Stille. Er räumt wie fast jeden Morgen, Pizzakartons und Flaschen weg und holt sein Frühstück aus dem Kühlschrank, dass er sich vorbereitet hatte. Als er aus dem Haus tritt ist der freundliche Radiomoderator, der Einzige, der ihm einen guten Tag gewünscht hatte, aber das störte ihn nicht mehr, denn es war schon längst zur Gewohnheit geworden. Was ebenfalls zur Gewohnheit geworden war, waren die abschätzigen Blicke seiner Mitschüler auf dem Schulhof. Manchmal versuchte er sich auszumalen, wie es wohl wäre berühmt zu sein und dann dachte er: „Genau, viele abschätzige Blicke müsste man ertragen. Ich bin fast so etwas wie eine Berühmtheit!“ Dieser Gedanke ließ ihn immer grinsen, denn es gab wohl nur wenige Menschen, die weiter davon entfernt waren, als er, berühmt zu sein. Dieses leicht schiefe Lächeln brachte aber noch einen weiteren Vorteil mit sich, nämlich dass er keinem die Macht gab ihn verletzen zu können. Der Tag verlief weiter wie gewohnt. In den Stunden saß er neben seiner hübschen Sitznachbarin, die dem Jungen in der Reihe vor ihm unverhohlene Blicke zu warf und in den Pausen saß er allein. Es gab eine Sache, die er wirklich gut konnte und das war das Lügen. Er hatte eine meisterliche Fassade um sich aufgebaut. Allein heute hatte er schon mehren Leuten Halbwahrheiten aufgetischt, als er zählen konnte, er selbst gehörte zu ihnen. Er hatte versucht sich vorzustellen, dass seine Mutter ihm das Pausenbrot vorbereitet hätte und dass sie gleich von einer Nachtschicht nach Hause kam, aber das tat sie nicht, da sie damit beschäftigt war ihren Rausch auszuschlafen. Außerdem hatte er seiner Sitznachbarin erzählt, er hätte null gelernt für sein Referat, obwohl seine Eltern ihn sehr dazu gedrängt hätten. Zu dieser Lüge musste man aber bemerken, dass es eine Notlüge gewesen war, um vor ihr möglichst cool und normal dazustehen. Im Nachhinein musste er aber zu geben, dass es ein armseliger Versuch gewesen war. Doch jetzt in diesem Moment musste er seine Mauer aus Lügen fallen lassen und das machte ihm eine ungeheure Angst, denn er wollte seine Meinung sagen, es war wie ein Bedürfnis was ihn beschlich. Alles hatte letzte Woche begonnen als Referatsthemen vergeben wurden, er hatte „Demokratie“ bekommen und war sich sicher gewesen wieder mal den langweiligsten Mist gezogen zu haben. Doch er hatte sich geirrt und irgendwie war es ihm wichtig das auch anderen zu sagen. In seiner heutigen Präsentation konnte er nicht lügen. Er wurde aufgerufen und wie selbstverständlich ließ seine Lehrerin den Rotstift über dem Nichtgemachtfeld kreisen. Doch zu ihrer Überraschung stand er auf und ging nach vorn. Die Klasse vor ihm redete und hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Zwei Mädchen aus der ersten Reihe sahen ihn an und kicherten dann. Es lag wahrscheinlich and der abgewetzten Hose und dem labbrigen T-Shirt was er trug. Und in diesem Moment reichte es ihm. Er hatte es so satt zu schweigen. Er schmiss seine Karteikarten rücksichtslos auf den Tisch. „Demokratie bedeutet Gleichheit, Freiheit und Respekt vor Jedermanns Meinung.“ Es wurde ruhig im Raum und er straffte die Schultern. Er senkte seine Stimme etwas, aber verlieh ihr den gleichen Nachdruck. Er begann seinen Vortrag damit die Wurzeln der Demokratie im alten Rom aufzudecken und bemerkte dabei, wie seine Worte einen Fluss fanden. Er wurde getragen, leicht und ohne Gewicht, und der Rhythmus seiner Stimme entsprach den Wellen des Meeres. Er meinte was er sagte und von Minute zu Minute, begann sich ein Gefühl in ihm breitzumachen, was er zuvor noch nie erlebt hatte, Stolz. Er war in eine völlig neue Welt abgetaucht, in der Stille herrscht und er zur Ruhe kam. Es wurde leise in seinem Inneren, obwohl er so viele Worte aussprach. Er begann Einzigartigkeit, Macht und Schönheit zu sehen, wo er diese nie vermutet hätte. Er hatte sich getraut, sich in unbekannte Tiefen zu stürzen und erst da bemerkt, dass er frei atmen konnte. In seinem Fluss kam er auf demokratisch Werte zu sprechen und deren Bedeutung und er spürte, dass man seinen Worten glaubte, denn er glaubte sie. Als er auftauchte war, war der Raum von Stille erfüllt, alle Augen waren auf ihn gerichtet und seine Lehrerin schaute als sähe sie ein Wunder und vielleicht war es ja so. „ Danke“, er machte eine kurze Pause, „ für eure Aufmerksamkeit.“ Tosender Applaus brach aus.
2. Preis: Jan Schauenburg (23 Jahre), Kaufungen
Mensch mach die Fliege
Wenn Sie jemand fragen würde was Sie unter dem Begriff "Menschlichkeit" verstehen, was würden Sie demjenigen antworten? Würden Sie Eigenschaften, wie moralisches Handeln, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft oder Höflichkeit als Eckpfeiler menschlichen Handelns sehen?
Der Begriff "Menschlichkeit" ist in der Regel positiv besetzt. Ist das aber gerechtfertigt? So sollte der Begriff doch für das typische Verhalten der Menschheit stehen.
Mit den Menschen ist das nämlich so eine Sache. Immer wieder neigen sie dazu, ihre Mitmenschen schlecht zu behandeln, sie emotional oder körperlich zu verletzen, sie zu belügen, zu bestehlen oder gar zu töten. Sie führen Kriege, foltern und versklaven andere Menschen.
Es ist aber nicht nur der Umgang mit den Mitmenschen der zuweilen zweifelhaft ist. Der Mensch hat es nämlich geschafft, sich an die Spitze der Nahrungskette zu mogeln und das obwohl er weder das schnellste, noch das größte oder das stärkste Tier ist. Er kann weder von Haus aus fliegen, noch hat er scharfe Krallen, Fangzähne oder Giftdrüsen.
Mit dem Menschen an der Spitze der Nahrungskette kam das Leid für alle anderen Tiere. Massentierhaltung, Tierversuche und Waldrodungen nur um Mal drei Schandflecken menschlichen Handelns zu nennen.
Durch den Menschen an der Spitze der Nahrungskette hat der Mensch nur noch einen natürlichen Feind in der Tierwelt und zwar seine Mitmenschen.
Bei vielen anderen Tieren wirkt das Leben irgendwie viel unkomplizierter. Wer hat denn nicht schon mal seine Katze gekrault, während sie genüsslich schnurrend in der Sonne lag und hat sich gedacht: "Dein Leben hätte ich auch gerne?"
Oder nehmen wir Mal die Fliege. „Warum die Fliege“ fragen Sie sich jetzt? Zugegeben sicherlich hat noch nie ein Mensch den Wunsch zum Ausdruck gebracht gerne eine Fliege sein zu wollen. Aber irgendwie steht die Fliege für Friedfertigkeit. Anders als die Taube, die zu einem Symbol des Friedens wurde, würde sicherlich keiner eine Fliege auf Hochzeits- oder Trauerkarten drucken, denn die Fliege steht irgendwie auch für Wehrlosigkeit.
"Er kann nicht Mal einer Fliege was zu Leide tun." Das haben wir doch sicherlich alle schon einmal gehört oder selbst gesagt. Sicherlich hat auch jeder schon einmal eine Fliege totgeschlagen, selbst wenn es nur reflexartig war.
Wenn man denn an die Schöpfungsgeschichte glauben mag, erweckt es fast den Eindruck, als ob Gott die Fliege nur erschaffen hat, um von Mensch, Spinne oder Frosch wieder getötet zu werden.
Obwohl die Fliege ein solch wehrloses Tier ist, welches jede einzelne Sekunde ihres kurzen Lebens Gefahr läuft, getötet zu werden, kann man sie dabei beobachten, wie sie händereibend in der Ecke des Zimmers sitzt, so als wenn sie einen bösen Plan verfolgen würde.
Wer wurde nicht schon einmal von einer Fliege zur Weißglut getrieben, die nachts um einen herumschwirrte und obwohl die Fliege ständig vom Tod verfolgt wird, ernährt der Tod sie auch. Jeder der einen Tierkadaver im Wald gefunden hat, weiß, das die Fliegen über diesen herfallen, wie adipöse Leute nach der Fastenzeit über das Buffet beim örtlichen Chinesen. Heute soll es aber um eine ganz besondere Fliege gehen, nämlich um Franco die Fliege.
Es war vor einiger Zeit in einer ländlichen Region Österreichs. Franco erblickte einen Jungen der nachdenklich auf einem Feld saß. Zielstrebig
summte Franco zu ihm und krabbelte über seinen Arm. Der Junge schaute ihn verdutzt an, doch schlug nicht nach ihm. Franco flog auf den Hals des Jungens und krabbelte langsam hinauf. Immer noch keine Reaktion. Langsam kroch er in das Ohr des Jungen hinein. Der Junge kicherte zwar kurz, da Franco ihn kitzelte, doch zeigte er sonst keine Reaktion.
Franco hatte sein Ziel erreicht. Franco flüsterte dem Jungen etwas ins Ohr. Am selben Tag zündete der Junge noch die Bienenstöcke des Vaters an. Nachdem der Vater ihn geprügelt und in sein Zimmer gesperrt hatte, hörte man die Mutter sagen: "Ich verstehe das nicht, der Junge kann doch keiner Fliege was zu Leide tun."
Seit diesem Tag stiftete Franco den Jungen immer wieder zu Unfug an. Die Untaten des Jungen nährten Franco. So konnte er deutlich die Lebenserwartung einer Fliege überschreiten und begleitete den Jungen sein ganzes Leben lang.
Durch Franco schaute der Junge untätig seinem Vater beim Sterben zu. Verließ seine Mutter als sie sterbenskrank war, um nach Wien zu gehen. Durch Franco zog er in den ersten Weltkrieg und zettelte später den zweiten an, denn durch das Sterben der Menschen brachte er den Fliegen das Leben.
Erst mit dem Tod des Jungen, der mittlerweile ein Mann geworden war nahm Francos diabolischer Plan ein Ende. Der Junge war zwar tot, doch Franco der zog weiter.
Wettbewerb 2: Alle Altersgruppen ab 14 Jahre
1. Preis & Publikumspreis: Jürgen Roth (58 Jahre), Kandel
Schmetterlinge im Bauch
Es gibt kein Ü in einer Buchstabensuppe. Aber ganz oft das Ypsilon. Das weiß ich jetzt. Was ich bis heute nicht weiß, ist, woher die Anspannung kam, am Ende dieses tristen Februartages, dieses Verbohrte und dieses Verlorensein in meiner engen Welt. Vielleicht war ich an dem Abend einfach genauso schlecht gelaunt, wie der Wind, der in zornigen Böen gegen die Fenster meiner Wohnung anrannte. Elfter Stock. Bei mir hier oben ist es immer windig. Aber an jenem Tag blies ein echter Sturm durch die Ritzen. In die dicke graue Staubschicht auf den Fensterbänken kam Bewegung wie in eine Wanderdüne. Saubermachen ist nicht so mein Ding. Mein Spaß am Putzen steht zusammen mit der Ordnungsliebe irgendwo unten im Keller. „Bei dir sieht es aus, wie in einem Museum für Fussel, Krümel und Asche!“ hat sie einmal zu mir gesagt. Da waren wir noch zusammen.
Mit ihr war ich auch oft in diesem Laden, in dem sie selbstgemachte Pasta verkauften. War noch ein ganz kleines Ding in diesen Jahren, nicht viel mehr als ein paar Regale, ein Tisch und eine Kasse in einer ehemaligen Bäckerei. Nur der Name der Firma war der Zeit schon voraus: Pasta-King – Teigwaren-Manufaktur. Heute ein großer Betrieb mit Werkshalle und Fabrikverkauf. Dabei produzieren die einfach nur: Nudeln. Und alles, was man daraus machen kann. Suppen. Salat. Auflauf. Sie hat gerne dort eingekauft damals, in diesem liebevoll eingerichteten Geschäft mit all den Gläsern, Tüten und Schachteln, den verwirrend vielen Sorten Spaghetti, Penne, Tortellini und den anderen, die so aussehen wie Schmetterlinge und auf Italienisch auch so heißen: Farfalle. Daran musste ich denken, an diesem Abend. Denn wenn ich angespannt bin und sich mein ganzer Körper anfühlt, wie eine einzige feuchte Handfläche, dann gab es schon immer nur eins - Soul-Food. Pasta.
War es Langeweile? Nostalgie? Hoffentlich kein Selbstmitleid. Während meine Fensterscheiben unter den pulsierenden Windstößen zitterten und die metallenen Rahmen knackten, gab ich www.pasta-king.com in mein Notebook ein. Eine bunte Seite erschien, mit Fotos von dampfenden Töpfen, leckerem Essen und fröhlichen Menschen. Unten am Bildschirmrand eine Chatbox und daneben: „Chatten Sie mit uns. Wir sind immer für Sie da!“
„Immer“ stand da. Nicht „von 8 bis 18 Uhr“ oder so. Sondern dieses eine schlichte Wort: „Immer“. Für mich sind Worte wichtig. Sie sind die letzte Stufe, bevor die Taten kommen. Solange Worte im Raum schweben, hat man noch Möglichkeiten, kann man verschwinden, ausweichen oder sich treffen. Nach den Worten kommt das Machen und dann ist es zu spät. Deshalb bin ich bei Worten so genau, sogar bei einzelnen Buchstaben, pingelig bis zur Kleinkariertheit. „Du solltest dir das behandeln lassen“, hat sie früher mal zu mir gesagt.
Jetzt ärgerte mich dieses „immer“, dieses offensichtlich Falsche. Denn: wer ist schon „immer“ verfügbar? Mitten in der Nacht zum Beispiel, ganz früh morgens oder auch nur nach Ladenschluss, so wie an diesem Abend. So schrieb ich mürrisch in den Chat: „Noch jemand zuhause?“ Meine Freundlichkeit und meine guten Manieren hatten sich in dem Moment auch gerade in den Keller verzogen.
Ich legte das Notebook zur Seite und starrte aus dem Fenster. Immer noch drückte der Sturm gegen die Scheiben. Das Glas wölbte sich bei jedem Windstoß leicht nach innen und ich hatte das Gefühl, in meiner Wohnung entsteht der gleiche ungesunde Überdruck, der in meinem Inneren herrschte. Der Signalton holte mich aus meinen Gedanken. Eine Antwort im Chat: „Hallo. Ich bin Yvonne. Was kann ich für dich tun?“
Es war nur ein Feld auf einer Website. Ein weißes, rechteckiges Feld, in das man Text in schwarzer Schrift eingeben konnte. Und während man auf Antwort wartete, erschienen drei graue Punkte, die rhythmisch auf und ab hüpften. Nur ein weißes Feld mit schwarzer Schrift. Und doch: Sofort als sie schrieb, hatte ich das Gefühl, ich höre ihre Stimme.
Ja, das war die Frage: Was konnte sie für mich tun? Ich sah mein Spiegelbild im Fenster bei jeder Bö vibrieren als ich nach Antwort suchend nach draußen in den Sturm schaute. Doch mir fiel nichts anderes ein, als meine Gedanken zu Worten und Buchstaben und wie wichtig sie für mich sind, deshalb schrieb ich: „Habt ihr Buchstabensuppe?“ Unerwartet schnell kam die Antwort: „Jeps. Pasta-King Buchstabensuppe. Esse ich selbst oft. Voll lustig.“
Da war also ein echter Mensch am anderen Ende, ein offensichtlich gut gelaunter Mensch. Warum das verderben? Ich versuchte, die Ruppigkeit meiner ersten Sätze wieder gut zu machen: „Hi Yvonne. Ich bin Rüdiger.“
„Hallo Rüdiger. Willst du die Suppe bestellen?“ Das wollte ich nicht. Vor allem wollte ich nicht, dass das so schnell ging, so nüchtern und geschäftsmäßig. Ich hatte ihre Stimme gehört, in mir drin und wollte sie weiter hören. Eine Stimme, die nach Lachen klang. Ich tippte: „Kann ich damit meinen Namen schreiben?“ Fast gleichzeitig kam ihr „Na klar!“.
„Ist da ein Ü drin?“, fragte ich.
„Du kannst statt Ü ein U-E schreiben.
„Ich heiße aber Rüdiger. Nicht Ru-ediger.“
„U und E spricht sich zusammen Ü aus.“
„U und E spricht sich zusammen U-E aus.“
„Sicher?“
Ich musste nicht lange nachdenken, um Beispiele zu finden: „Zuerst, Duett, Buenas Dias ...“
„Schon gut.“
„... Suezkanal, Fuerte Ventura ...“
„Habs kapiert. U-E ist gestorben.“
„Danke. Und jetzt?“
Die drei grauen Punkte hüpften gelangweilt vor sich hin. Hatte sie den Chat verlassen? Kümmerte sie sich parallel noch um andere Kundenchats? Komm zurück, Yvonne! Meine Geduld hatte sich wohl auch ein Plätzchen im Keller gesucht. Nach einer Ewigkeit erschien: „Pasta-King Sternchensuppe. Zwei Sternchen in die Buchstabensuppe dazu tun als Ü-Punkte.“
„Clever. Zwei Suppen auf einmal verkauft. Aber was mache ich mit dem Rest von der Sternchensuppe?“, antwortete ich.
„An Sören verschenken. Der hat das gleiche Problem.“
Ich musste laut lachen. Hätte sie mich hören können: Ich bin mir sicher, wir hätten zusammen gelacht. Ich schrieb: „Kenne aber keinen Sören.“
„Hüseyin? Dörte?
„Nope“
„Jörg? Gürkan?
„Merkst du was? Ihr schließt ganz schön viele Leute von eurer Buchstabensuppe aus.“
„Keine Absicht“
„Schon gut. Was ist jetzt mit dem Ü?“
Die drei grauen Punkte hüpften träge vor sich hin, schließlich schrieb sie: „Letzter Vorschlag: Das Y!
„Das Y???“
„Das Ypsilon! Kann als Ü ausgesprochen werden. Bei Zypern zum Beispiel. Oder androgyn. Oder halt bei Ypsilon.“
„Du meinst: Rydiger?“
„Bingo!“
„Ich weiß nicht ...“
„Doch! Das Y ist cool. Ein richtiger Einzelgänger“
„What?“
„Zum Beispiel A und O und E. Da wird mit dem U ein AU draus oder ein EU oder so. Ein ganz neuer Laut. Was Gemeinsames. Beim Y: Fehlanzeige.“
„Hmm ...“
„Oder K und H. Machen mit dem C ein CK oder CH. Kooperation. Beim Y: Nix. Ein lonely Cowboy!“
„Da ist was dran ...“, musste ich zugeben.
„Und glaub mir, alles mit Y hört sich irgendwie cool an.“
„Haha. Wie bei Yvonne oder was?“
„Nee. Aber nimm Gabi. Mit i hinten. Klingt irgendwie langweilig mit Tendenz zu Speckröllchen. Aber Gaby hinten mit y: Immer auf Achse und eine Granate im Bett!“
„Hast ´ne Schwäche fürs Y, was?“
„Kann hinkommen.“
Draußen war es dunkel geworden. Wie aus dem Nichts drückten die Windstöße weiter gegen die Scheiben. Im nachtschwarzen Fenster sah ich, wie mein Spiegelbild lächelte. Ich schrieb:
„Heißt du wirklich Yvonne?
„Ist nur der Nickname für den Job hier.“
„Sondern?“
„Gaby“
„Hahaha ... Echt jetzt?“
„Unseren richtigen Namen sollen wir im Chat nicht sagen.“
„Schade!“
„Und du? Heißt wirklich Rüdiger?“
„Auf der Schule Spitzname „La Rue“. Weil ich so lang bin.“
„Ich kannte auch mal einen Rüdiger. An der Uni“
„Ja und?“
„Das bist nicht zufällig du?“
„Nö!“
„Rüdi! Bist du das? Gibs zu!“
„Nicht möglich ...“
„Warum?“
„Hab nicht studiert. Bin Autodidakt“
„Als was?“
„Internet-Aktivist.“
„Was machst du da so?“
„Kämpfe für die Rechte unterdrückter Umlaute.“
„Hahaha ... mein Rüdiger an der Uni, der war auch ... so ein bisschen ... anders halt ...“
„Machst du dich lustig, Yvonne?“
„Never!“
„Ist schlimm genug, wenn man Rüdiger heißt.“
„Mimimi ...“
„Bin deswegen sogar in Therapie ;- )“
„Ich hab‘ gewusst, ich kenne dich irgendwo her :- )“
„Haha ... Dein Tipp ist also echt ‚Rydiger‘?
„Mit dem Y bist du gut bedient. Glaub‘s mir.“
„Okay, hast mich überzeugt“
„Whoop-Whoop!“
Sie hatte mich in die Tasche gesteckt und ich fühlte mich wohl dort. Rydiger! Offensichtlich war sogar mein Verstand mittlerweile im Keller verschwunden. Dieser Chat hatte mich vollständig aufgesaugt. Sie schrieb:
„Wenn du mir deine Mail-Adresse gibst, melde ich dich für unseren Newsletter an.“
„“
„Spinner!“
„Und du willst mir deinen Namen wirklich nicht verraten?“
Die drei Punkte hüpften. Diesmal sehr, sehr lange. Schließlich kam die Antwort: „Es ist spät, La Rue. Ich muss los. Meine Kleine wartet.“
So riss der Sog plötzlich ab. Ich atmete tief durch und tippte in das Feld: „Dann machs gut. Gaby-Yvonne“
„Haha. Machs auch gut. Rydiger.“
„War nice!“
„Sehr!“
„Also dann“
„Also dann“
Ob ich noch Pasta bestellen wollte - daran haben wir beide nicht mehr gedacht. Einer von uns hat schließlich den Chat verlassen. Ich wars nicht. Sie war weg und ich hatte keinen Namen, keine Nummer und kein Gesicht, das mich zu der lachenden Stimme hätte führen können. Ich stierte noch eine Weile auf das kleine Textfenster, in dem eben noch die Punkte hüpften. Jetzt war da nichts mehr.
Ich kann nicht sagen, wie oft ich danach meine Mails gecheckt habe. Keine Nachricht von ihr. Dann, vier Tage später - es war, wie wenn man eine Sonnenbrille mit gelben Gläsern aufsetzt. Die Sonne scheint stärker, die Luft wird frischer, das Gras wächst schneller. Ich hatte sogar das Gefühl, mein Monitor leuchtet heller als ich ihre Mail sah:
„Bin nicht so besonders groß. Deshalb auf der Schule Spitzname: μ - Das My. Wollen wir mal zusammen in Therapie gehen? Liebe Grüße, Myriam."
Ich weiß, es ist weit. Elf Stockwerke nach unten, noch weiter runter zu den Parkdecks, wo es nach kaltem Beton und Motoröl riecht, und immer noch tiefer, durch dunkle Gänge mit Spinnweben an den Lampen bis zu den Verschlägen aus Holzlatten, an deren Türen Vorhängeschlösser baumeln. Ja, es dauert, bis man dort ist. Aber es sind ein paar Dinge im Keller, die ich jetzt dringend brauche. Ich habe das Gefühl, ich muss bald mal wieder da hin.
2. Preis: Bernd Großmann (74 Jahre), Hamburg
Shalom
„Psst“ zischelte er und legte den Zeigefinger auf die gespitzten Lippen. Augenblicklich erstarrte im Umkreis alles Leben. Keine Wimper zuckte, jede Bewegung blieb in der Luft hängen. Sogar das Atmen schien eingestellt. Selbst die ältere Frau unterdrückte die Zuckungen ihrer Hände, indem sie sie fest in den Schoß presste. Nur ihre Mundwinkel bezeugten ihre Unruhe, wenn sich ihr Gesicht vom breiten Grinsen in eine tiefe Trauermiene verzog. Angst sprang aus allen Gesichtern. Wie auf Knopfdruck war Totenstille eingekehrt. Auf der anderen Seite der Wand lauerte Gefahr, ja, der Tod, wenn sie nicht unsicht- und unhörbar waren.
Sie hörten wie die Stubentür aufgestoßen und die zittrige Stimme der Magd durch den Klang von Stiefelabsätzen übertönt wurde, „Buur, de Dörpschult wullt mit di praten!“ „Bedankt, Trintje. Moin, Ernst. Na, was führt dich raus zum Vogthof? Hab' dich ja lang' nicht gesehen!“ „Heil Hitler, Hinnerk. So viel Zeit für 'nen anständigen deutschen Gruß muss sein!“ Der Bürgermeister riss den rechten Arm in die Höhe und nahm eine ungewollt komische Haltung ein. Die braune Uniform spannte bedrohlich im Bereich des Bauches, sodass nur das Koppelschloss die Jacke am Bersten zu hindern schien. Er atmete schwer, hatte ihm der steife Wind auf dem Stahlross doch arg zugesetzt. „Na, Ernst, konnste de Kinner inne School allein lassen?“ „Hinnerk, du weißt selbst,“ hob der Bürgermeister an, sich den Schweiß von der Stirn wischend, „seit die Partei mich zum Bürgermeister ernannt hat, hab' ich mehr umme Ohren als eure Kinder zu guten Deutschen zu erziehen. Aber ja, ich bin von Amts wegen hier. Und als Mensch. Hinnerk, du weißt doch, dass wir das Reichsbürgergesetz immer großzügig ausgelegt haben und die Rosenblatts ihren Laden ohne große Auflagen führen konnten. Dafür hab' ich mich persönlich bis ganz nach oben eingesetzt! Das kannste mir glauben.“
Herrn Rosenblatt stockte der Atem hinter der Wand. Er konnte durch ein Astloch in der Vertäfelung den umherstolzierenden Dorflehrer Graubner sehen. Was für ein mieser Stiefel- und widerlicher Speichellecker, der krampfhaft an seiner Herrenmenschenideologie festhielt. Dieser unerträgliche Opportunist, dem „Mein Kampf“ und das Parteibuch näher am Herzen lagen als jedes andere Buch. Und von wegen Großzügigkeit. Ständig wurden die Rosenblatts vom Hygieneamt heimgesucht, um etwas an ihren Waren zu bemängeln. Nun ja, sie lagerten Fleischiges und Milchiges gesondert. Die jüdischen Speisegesetze waren ihnen wichtig. Dafür kamen viele Kunden, meist Glaubensbrüder, aus ganz Niedersachsen angereist, um in ihrem Krämerladen zu kaufen. Doch auch die Graubners zählten lange zu ihren Kunden. Gerade deshalb hätte Herr Rosenblatt aufschreien können.
Jetzt stellte sich Graubner breitbeinig vor den Pfeife stopfenden Hinnerk Vogt, zupfte an der Hakenkreuzbinde am Arm und erklärte im Respekt gebietenden Ton: „Doch jetzt is‘ Schluss! Endgültig! Unsere Mitmenschlichkeit wurde überstrapaziert! Ich weiß, du siehst das anders, aber auch die Rosenblatts gehören zu den Volksschädlingen, die die Volksgemeinschaft nicht nur mit ihren Wucher- und Schacherpraktiken in die Knie zwingen wollen. Das kannste im „Völkischen Beobachter“ nachlesen. Seit letztem Montag aber, als der deutsche Diplomat von jüdischem Gesocks in Paris erschossen wurde, wissen wir, wer der Feind ist. Das Weltjudentum. Und das werden wir mit allen Mitteln bekämpfen. Gesindel gehört ausgemerzt. Doch wo sind die feinen Rosenblatts seit dem 10.11.? Untergetaucht? Wie vom Erdboden verschluckt, hä, als hätten sie ihre Finger mit im Verrat am deutschen Volk.“ Um den Worten Gewicht zu verleihen, schritt Graubner bedächtig auf und ab. „Schlägt da das schlechte jüdische Gewissen? Wenn wir sie kriegen, wird sich erweisen, wie sie zu dieser feigen Tat stehen. Verbrecher, Hinnerk, das weißte so gut wie ich, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Da gibt's kein Pardon.“ Er holte Luft, um besänftigend fortzufahren. „Aber, Hinnerk, du weißt, ich bin kein Unmensch. Du kennst sie ja besser als ich. Solltest du eine Ahnung haben, wo sie sind, sag's uns oder rate ihnen, sich zu stellen. 'S besser für sie! Wenn die Gestapo sie aus irgend 'nem Unterschlupf rausholt, wird's erst recht bitter. Und so viel Aufsehen wollen wir beide doch nicht für unser Dorf, oder?“
Die vier hörten jedes Wort und Herr Rosenblatt verfolgte, das Auge ans Astloch gepresst, jede Bewegung. Dabei entging ihm nicht, dass Graubner hinter seinem selbstherrlichen Gehabe ein gerüttelt Maß an Unsicherheit verbarg. Sein nervöses Fingern an den Ärmeln seiner Uniform verrieten die innere Spannung. Er war auf Weisung des Sicherheitsdienstes, Abteilung 'Gegnerbekämpfung', erschienen und hatte als Bürgermeister Erfolge vorzuweisen. Er stand unter Druck. So versuchte er sein Glück bei Hinnerk Vogt, von dem er sich Hinweise erhoffte. Und die Rosenblatts spürten, dass dieser willfährige Bürokrat ihnen gefährlich werden könnte, vertraute er doch der Nazi-Justiz und den Hetzparolen der Judenhäscher. Sie ahnten bereits, wie gefährdet sie waren, als am 8.11. vom Attentat berichtet und darauf jüdische Geschäfte und Synagogen in Schutt und Asche gelegt wurden.
Die Rosenblatts fühlten sich früh zu Hinnerk Vogt hingezogen und hatten ihm sogar ein paar Sorgen anvertraut, galt er doch als unbeugsamer Mann, der seinen Dickschädel stets gegen den braunen Mob mit seinem rassistischen Unfug einsetzte. Ein freiheitsliebender Niedersachse war er, ein Ostfriese, der sich von keinem und schon gar nicht von Obrigkeiten vereinnahmen ließ. War ihm jede Art von Religion auch suspekt, in den Rosenblatts sah er nicht die Juden, sondern nur die Mitbürger, Mitmenschen, denen er einen helfenden Arm anbot. So war er eben, sturköpfig und grad heraus. Das schien in der Familie zu liegen So hatte ein Vorfahr im Vogthof ein Versteck gebaut, um seine Familie vor plündernden Söldnern zu schützen. In der Zeit der Napoleonischen Kriege hatte er zwischen Stube und Scheune Wände eingezogen und eine Kammer geschaffen, die von außen nicht erkennbar ihren Zugang in einem mächtigen Eichenschrank hatte. Also zögerte Hinnerk nicht, als die Rosenblatts mit Sack und Pack vor ihm standen und um Zuflucht in der Scheune baten. Nur fürs Wochenende. Überall standen Synagogen in Flammen, hatten sie von Glaubensbrüdern gehört. Die Gauleitungen hatten SA-Dienststellen angewiesen, jüdische Einrichtungen zu vernichten und Polizei wie Feuerwehren nicht einzugreifen.
Hinnerk bat die verängstigte Familie in ihrer Not herein. Sie hatten den Laden Hals über Kopf verlassen und wussten nicht wohin. Gerüchte gingen um, dass hunderte von Juden zusammen-getrieben wurden, um in ein Lager abtransportiert zu werden. Die Rosenblatts konnten, nein, sie wollten dem keinen Glauben schenken, doch sie ängstigten sich zu Tode.
Als Hinnerk mit dem Stopfen der Pfeife fertig war, zündete er schmauchend den Knösel an und sagte: „Nee, Ernst, ich hab' kein' blassen Schimmer, wo die stecken könnten. Da haste den Weg wohl umsonst gemacht. Is' ja 'ne mächtig steife Brise draußen. Hoffentlich kommste vorm Regen zurück. Wär' schad' um die feine Uniform“ und schob noch „Ihr Nazis steht ja ungern im Regen!“ nach. „Nix für ungut, Hinnerk. Aber wennde was hörst, denk' dran, Bericht erstatten. Nicht, dass du dich strafbar machst!“ Hinnerk geleitete Graubner an die Tür und rief ihm noch zu: „Ich halt' Augen und Ohren offen, versprochen. Hol du di man stief, Ernst!“ Zufrieden kehrte er in die Stube zurück und klopfte an die Paneele. „He is wech! Kommt mal 'n Moment raus.“ Er öffnete die Eichentür und die Rosenblatts entstiegen dem Schrank. „Tja, da hatten wir Dusel, dass Trintje den Schulte entdeckt hat,“ sagte Hinnerk mit einem Grienen im Gesicht. „Wenn die Gestapo aber aufkreuzen sollte, müsst ihr unsichtbar sein. Solange keine Fluchtlösung da ist, müsst ihr im Verschlag ausharren.“ Herr Rosenblatt lächelte, „Das macht nichts. Lieber hinter dieser Wand da,“ und er deutete hinter sich, „als hinter Stacheldraht. Wir sind Ihnen ewig dankbar für Ihre Mitmenschlichkeit. Ihr Bruder findet sicher einen Weg.“
Tatsächlich hatte Hinnerks Bruder Gerke Kontakt zu niederländischen Widerstandsgruppen, die Juden bei der Flucht halfen. Fluchtwege mussten ausfindig gemacht, Transportmittel besorgt, Ausweise gefälscht werden. Das brauchte Zeit, aber wenn die Rosenblatts zu resignieren schienen, schaute Hinnerk mit ‘ner Kanne heißem Tee mit Kluntje vorbei. „Teetied“ kündigte er sich an, wenn er durch den Schrank kroch. Den Sahnelöffel hochhaltend fragte er, „Un wullt ji ok 'n Wulkje Rohm?“ Damit war alle Trübsal verflogen. Auf den Tisch wurde Gebäck gestellt, der Tee langsam über den braunen Kandis gegossen und die Sahne vorsichtig hineingeträufelt, sodass eine zarte Sahnewolke entstand. Welch eine Zeremonie an diesem trostlosen Ort.
Neunzehn Tage haben die Rosenblatts dort verbracht, haben gegessen, geschlafen, gebetet, haben gehofft, gezweifelt und gesungen. In der Nacht zum 1. Dezember übergab Gerke sie einem Fluchthelfer. Der Abschied war kurz, aber innig. Ihnen war klar, dass es „Ungläubige“ waren, die die rettende Wand zwischen Grauen und Leben gezogen hatten, hinter der sie sich verbergen konnten. Wo das Leben sie auch hintragen würde, sie nahmen die Gewissheit mit, dass es Menschen sind, nicht Religionen, die Mauern bauen, Stacheldrahtzäune ziehen, Gräben aufreißen, die aber ebenso Wände und Dämme errichten, um Schutz zu bieten.
Im März 1947 erreichte die Vogts ein Brief. Die Rosenblatts hatten ‘39 ein Boot besteigen können und damit das Tor zu ihrer Heimat, zu Ostfriesland, endgültig hinter sich zugeschlagen. Sie haben viel von den Grausamkeiten erfahren, die ihren Glaubensbrüdern und -schwestern in Deutschland und auch in Ostfriesland angetan wurden. Es gab zu viele Graubners. Dieser Gedanke war schier unerträglich für sie. Rückkehr ausgeschlossen. Doch der Brief enthielt auch eine versöhnliche Note. Herr Rosenblatt schrieb bewegt, dass sie die Sicherheit des Verschlages nie vergessen werden, dass sie im Kibbuz die Teezeremonie, „de Teetied mit 'n Wulkje Rohm“, beibehalten hätten und ihr Sohn Aaron die drei Sabbatfeiern hinter der Wand als die eindrücklichsten in Erinnerung behalten werde. Und er beendete den Brief mit einem Vergleich, der Hinnerk sehr berührte. Wie Moses das Volk Israel aus Ägypten führte, indem er die Wasser des Schilfmeeres teilte, so boten die Vogts ihnen bei der Flucht aus Friesland ins Gelobte Land die Wand, hinter der sie Schutz vor Verfolgung fanden. Eine Mauer der Mitmenschlichkeit.
Shalom.